: „Fritz, du bist doch der Beste!“
Fritz Haarmann war ohne Frage der berüchtigtste Massenmörder Deutschlands. Aber war er wirklich ein Einzeltäter – oder hatte er in Hans Grans einen habgierigen Mitwisser?
VON TOBIAS PREMPER
Man musste sich von vornherein eingestehen, dass eine gleichsam das Weltgewissen befriedigende Auflösung des ungeheuren Falles nicht möglich war. (Theodor Lessing)
Nachdem der gefürchtete Massenmörder Fritz Haarmann für insgesamt 24 Morde in Hannover verurteilt und am 15. April 1925 hingerichtet worden war, zeigte sich das Volk erleichtert. So erleichtert, dass es zur Melodie eines bekannten Schlagers sang: „Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu dir. Mit dem kleinen Hackebeilchen macht er Leberwurst aus dir.“ Der Werwolf, wie der Prozessbeobachter Theodor Lessing Haarmann getauft hatte, war aufgespürt und unschädlich gemacht worden. Und doch bleibt die Wahrheit in diesem Fall bis heute im Halbdunkel. Die Wahrheit über Haarmann und die Wahrheit über die Person, die mehrere Jahre eng an seiner Seite verbracht hat – Hans Grans.
Hans Grans wurde am 7. Juli 1901 geboren und stammte aus einer gutbürgerlichen hannoverschen Familie. Der Vater war Buchhändler. Bis zur Quinta besuchte Grans die Oberrealschule, danach bis 1915 die Bürgerschule. Nach neun Monaten als Handlungslehrling wurde er aus der Metallwarenfabrik Söhlmann entlassen, weil er Geld stahl. Danach war er bis Ende 1918 in verschiedenen Fabriken in und um Hannover sowie Berlin als Arbeiter tätig. Als er 1919 aus seiner Tätigkeit beim Minenwerfer-Sturm-Detachement Heuschkel wegen Unpünktlichkeit entlassen wurde, kehrte er nach Hannover zurück und schwindelte seinem Vater vor, bei der Reichswehr eine Anstellung finden zu wollen. Als der Vater die Lügen des Sohnes aufdeckte, brach der Kontakt zur Familie ab, Grans übernachtete fortan in Gastwirtschaften und handelte mit alten Kleidungsstücken.
Theodor Lessing beschreibt Hannover in den durch Armut geprägten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg als zentral gelegene Durchgangsstadt. Tausch- und Transaktionsgeschäfte zogen viel Schieber- und Schmarotzervolk an. Besonders an drei Stellen der Stadt konzentrierte sich ein derart ausgeprägter Markt der Hehlerei und Prostitution, dass die unterbesetzte Polizei völlig überfordert war. Am Hauptbahnhof wurde illegal mit Fleisch und Kartoffeln, aber auch mit Kleidung gehandelt. Um das Café Kröpcke herum tummelten sich männliche Prostituierte. Das dritte Zentrum des Sittenverfalls bildete die Altstadt mit ihren Gassen, den baufälligen Fachwerkhäusern und vielen unübersichtlichen Winkeln. Sie war ein Ort, der Arme, Verbrecher und Zuhälter anzog und an dem auch Haarmann und Grans später gemeinsam leben sollten.
Im Frühjahr 1919 lernte Grans den damals 39-jährigen Fritz Haarmann im Homosexuellenmilieu kennen. Angeblich hatte Grans erfahren, dass Haarmann fürs Onanieren gut bezahlte. Er folgte Haarmann und bot sich ihm an. Geschlechtlich verkehrten Haarmann und Grans einige Male miteinander, jedoch fühlte sich Haarmann von Grans’ starker Behaarung abgestoßen, die dieser später für Haarmann abrasierte. Grans und Haarmann blieben von nun an in ständiger Verbindung. Sie schliefen sogar über ein Jahr im selben Bett. Haarmann, der viele Jahre in Gefängnissen und Irrenhäusern verbracht hatte, suchte einen Menschen, der, wie Haarmann es ausdrückte, „lieb“ zu ihm war. „Man denke sich“, schrieb Theodor Lessing, „in den Tiefen der Untersee einen zähen, klugen Taschenkrebs, welcher nistet auf dem Höhlenhaus eines im Dunkel sich vollsaugenden, schleimigen Quallentieres, etwa eines pflanzenhaften Riesenpolypen, so hat man ein ungefähres Bild für die merkwürdige ‚Symbiose‘.“
Wenn Haarmann nicht für den Lebensunterhalt von Grans sorgte, verkaufte dieser Zigaretten für ihn. Haarmann benutzte auch oft seinen Invalidenausweis, um als angeblich armer Kriegsveteran den Leuten Geld oder Kleidung abzuschwindeln. Er bettelte sogar erfolgreich beim Generalfeldmarschall Hindenburg. Als man Haarmann und Grans bei einem dieser Bettelzüge erwischte, wurde Haarmann zu drei Wochen Haft verurteilt. Grans hingegen konnte sich freilügen. Da in der Zeitung vor den beiden Schwindlern gewarnt wurde, mussten sie fortan ihren Wäschehandel mit anderen Mitteln am Laufen halten. Es kam zu zahllosen Diebeszügen, wobei sie die Wäschestücke aus Hinterhöfen direkt von der Leine stahlen. Als das Duo erneut erwischt wurde, konnte sich Grans wieder aus der Sache herauswinden, Haarmann ging erneut in Haft.
In dieser Zeit war Grans auf sich allein gestellt. Er wurde mehrfach wegen Diebstahls und widernatürlicher Unzucht angezeigt, die Verfahren wurden aber aus Mangel an Beweisen eingestellt, oder es wurden Urteile zur Bewährung ausgesetzt. Als Grans keine andere Geldquelle mehr anzapfen konnte, versetzte er sämtliche Möbel aus Haarmanns Zimmer in der Altstadt. Als Haarmann schließlich aus dem Knast kam, musste er sich Geld leihen, um sich neu einrichten zu können. Erst danach gesellte sich Grans wieder zu ihm. Haarmann wusste, dass Grans ein heller Kopf war: „Ich sagte zu ihm oft, ich wollte, ich wäre so schlau wie du.“ Grans erledigte diverse Schreiben und Rechnungen für Haarmann. Aber Haarmann bezeichnete Grans auch als faulen Menschen, der ihn losgeschickt habe, um zu betteln und zu stehlen. Und dann habe Grans das ganze Geld mit leichten Mädchen versoffen und verhurt. „Mitunter war die Stube so voll“, sagte Haarmann, „dass ich mich nicht umdrehen konnte. Dann bin ich weggegangen und habe mich geärgert.“
Wiederholt trennten sich die beiden. Aber immer wenn Haarmann Grans rausgeschmissen hatte, konnte dieser ihn bald wieder umstimmen. „Wenn der Hans mich küsste“, berichtete Haarmann, „wenn er mich so lieb in den Arm nahm und mich streichelte, dann war ich weg, dann konnte der mit mir machen, was er wollte.“
Nachdem Haarmann mehr und mehr unter Mordverdacht geriet, veranlasste die Polizei mehrere Durchsuchungen seiner Wohnung, die allerdings, auch aufgrund schlampiger Ungenauigkeit, erfolglos blieben. Einem Zufall war es dann zu verdanken, dass er trotzdem erwischt wurde. Am 22. Juni 1924 wurde Haarmann verhaftet, als es am Hauptbahnhof zu einer Auseinandersetzung mit dem Jungen Kurt Fromm kam. Genau an jenem Hauptbahnhof, dessen Wartesäle Haarmann, manchmal auch mit Grans, beinahe täglich durchkämmte. Wo er Jungen nach ihren Reisezielen fragte und sie mit zu sich nach Hause nahm, wo er von Polizisten geduldet wurde und ihnen Tipps gab, wenn etwas Verdächtiges vor sich ging. Als Haarmann schon fast wieder auf freiem Fuß war, erkannte ihn ein Beamter des Sittendezernats, der gerade die Akten der im Fall der in der Leine gefundenen Schädel und Knochen Verdächtigen studiert hatte, und behielt Haarmann auf dem Revier.
Einige Tage später, am 26. Juni 1924, wird auch Grans, gegen den mittlerweile erhebliche Verdachtsmomente bezüglich einer Mitwisser- und Mittäterschaft vorlagen, verhaftet. Grans wartete im Flur der Kripo auf seine Vernehmung, als ein Zeuge Grans’ Anzug als denjenigen seines vermissten Bruders erkannte. Grans trug also nachweislich Kleidung von Ermordeten. Er gab an, die Kleidung von Haarmann gekauft zu haben, und konnte dafür auch Quittungen vorweisen. Wie sich später herausstellen sollte, gab es viele Menschen, die von Haarmann Kleidung gekauft und getragen hatten. Jedoch erhob Haarmann im Verlauf der Befragungen schwerste Vorwürfe gegen Grans. Mehrfach wiederholte er, Grans habe von den Morden gewusst und ihm zudem Jungen zugetrieben, weil Grans deren Kleidung haben wollte.
Der Gerichtsprozess gegen Haarmann und Grans, der am 4. Dezember 1924 begann, war ein Spektakel, das Massen von Menschen anzog. Allerdings wurden täglich nur 80 Zuschauer zugelassen. Die Volksstimmung, das Gericht und letztlich auch Haarmann, der am liebsten noch vor Weihnachten geköpft werden wollte, um zum Fest bei Mutti im Himmel sein zu können, wollten ein schnelles Urteil. Jemand sollte für die Gräueltaten büßen, und Zucht und Ordnung sollten wieder herrschen. Fritz Haarmann wurde des 27-fachen Mordes angeklagt, gegen Grans wurde Anklage wegen Anstiftung zum Mord in zwei Fällen erhoben. Theodor Lessing beschreibt Grans in seinem Buch „Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs“ (1925): „Hans Grans, so zäh wie zart, so unzerbrechlich wie mädchenhaft; immer gleichmäßig überlegen und überlegend, zuvorkommend, liebenswürdig, in der Lage eines Fuchses, der in äußerster Todesnot alle Aufmerksamkeit überwach sammelt und jede Lücke erspäht, durch die er der teuflischen Falle entschlüpfen kann. Er friert weit mehr als Haarmann in einer ungeheuren Einsamkeit. Er ist schuldlos und dennoch gefährlicher. Grans ist zu egoistisch selbst für Liebe und Rache. Er kennt keinen Affekt. Nur: kluge Selbsterhaltung.“
Grans’ Verteidigungslinie war klar. Er leugnete alles, was ihn verdächtig machen konnte – beim Morden geholfen zu haben, zu ihnen angestiftet zu haben, von ihnen gewusst zu haben. Überhaupt bot Grans vor Gericht einen ganz anderen Anblick als Haarmann, der in Gefängniskleidung erschien. Grans trug einen gutsitzenden Anzug und ein weißes Hemd mit Krawatte. Er wirkte beherrscht, antwortete knapp und präzise und rief nicht dazwischen. Doch schien Grans von Anfang an gegen die Aussagen Haarmanns und verschiedener anderer Zeugen keine Chance zu haben. Hinzu kam, dass er in seinem Anwalt Lotze einen miserablen Verteidiger hatte, der nach Lessings Meinung ein gänzlich unfähiger Mann war, ohne forensische Begabung, psychologisches Interesse und logische Schärfe – „ein lieber Mensch am Stammtisch, war er in diesem mächtigsten Kriminalfall unserer Tage hilflos“. Nach Lessings Ansicht beging Grans den Fehler, zu gefühllos zu sein. Vielmehr versuchte Grans, sich so weit wie möglich von Haarmann, den er vor Gericht nur „Herr Haarmann“ oder „der Angeklagte Haarmann“ nannte, zu entfernen. Doch je mehr Distanz zu Haarmann er herstellte, der ihn eigentlich gar nicht hingerichtet sehen wollte, desto schwerer belastete dieser Grans. In der Hauptsache versuchten die Staatsanwaltschaft und das Gericht, Grans’ Beteiligung an der Tötung der beiden Jungen Adolf Hannappel und Fritz Wittig zu ergründen.
Der Fall Adolf Hannappel: Fritz Haarmann lernte am Hauptbahnhof den sich auf Reisen befindenden 17-jährigen Düsseldorfer Zimmermann Adolf Hannappel kennen. Hannappel, ein kräftiger, hübscher junger Mann, war gut gekleidet und hatte eine schöne Reisekiste bei sich. Niedergeschlagen und ohne Obdach saß er nach erfolgloser Arbeitssuche am Hauptbahnhof. Laut Haarmann machte Grans Haarmann auf Hannappel aufmerksam und sagte ihm, er würde gerne die neue und qualitativ hochwertige Breecheshose haben. Dann sprach Grans Hannappel an. Der war zunächst abweisend, ließ sich aber schließlich doch überreden, seine Kiste bei der Gepäckaufbewahrungsstelle abzugeben. Grans gab ihm Zigaretten, spendierte ein Bier und versprach ihm eine Unterkunft. Grans ging nach Hause und Hannappel mit Haarmann in dessen Wohnung, Rote Reihe 2, wo er mit ihm „poussierte“. Als Grans am nächsten Morgen die Hose des Hannappel abholen wollte und ihn immer noch am Leben sah, war er verärgert. Hannappel hielt sich noch einige Tage bei Haarmann auf, seine Arbeitssuche blieb allerdings weiter erfolglos. Schließlich tötete Haarmann Hannappel. Haarmann und Grans eigneten sich die Sachen des Hannappel an und lösten seine Kiste am Hauptbahnhof ein. Die erbeuteten Gegenstände verkaufte Haarmann. Einige der Kleidungsstücke wurden später von Zeugen bei der Polizei abgegeben und identifiziert.
Die Tatsachen im Fall Hannappel wurden durch verschiedene Zeugen und Haarmann festgestellt und ergänzten sich. Jedoch bestritt Grans deren Richtigkeit und sagte aus, nicht er habe Haarmann, sondern dieser habe ihn auf Hannappel, dessen Hosen und Koffer aufmerksam gemacht und ihn auch angesprochen. Nach einigen Tagen dann habe Grans mit Haarmann die Kiste abgeholt und in Haarmanns Wohnung auch die Breecheshose gesehen. Haarmann habe ihm gesagt, der Junge sei abgereist und habe ihm die Sachen verkauft. Grans vermutete, Haarmann habe sie ihm durch eine Gaunerei abgenommen. An Mord, so Grans, habe er nicht gedacht. Er habe die Hose von Haarmann für 5 oder 6 Mark gekauft. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Grans in Voraussicht des kommenden Erfolgs gehandelt und immer wieder versucht habe, auf Haarmann einzuwirken, was ihm letztlich auch gelungen sei. Grans sei schuldig, indem er wissentlich Hilfe geleistet habe.
Der Fall Fritz Wittig: Laut den Darstellungen der Zeugen und Haarmanns lernte dieser den 17 Jahre alten Kaufmann Fritz Wittig in der Nähe des Cafés Kröpcke kennen, wo Wittig mit Richard Ruth ins Gespräch kam. Haarmann erfuhr, dass Wittig arbeits- und obdachlos war und bei Ruth nächtigen wollte. Haarmann entfernte sich zuerst und kehrte dann nach kurzer Zeit mit Grans zurück. Grans gefiel der Anzug des Wittig, zumal sein eigener schon an den Ärmeln entzweiging. Durch ein geschicktes Manöver trennten Haarmann und Grans Wittig von Ruth und arrangierten es, dass Wittig bei Haarmann blieb, wo er zu essen und einen Schlafplatz bekommen sollte. Doch Haarmann fand wegen einer Verstümmelung an Wittigs Arm keinen sexuellen Gefallen an ihm und schickte ihn am nächsten Tag und in der Folge immer wieder fort. Grans war missgestimmt und brachte Wittig regelmäßig wieder zu Haarmann zurück. Wie Haarmann angab, habe er Grans gesagt, er könne den Wittig nicht lieben. Daraufhin habe Grans gesagt: „Man macht das doch leichter bei einem, den man nicht liebt.“ Um endlich vor Grans Ruhe zu haben, tötete Haarmann Wittig schließlich. Als Grans dann zu Haarmann kam, war dieser gerade damit beschäftigt, die Leiche Wittigs zu zerlegen. Haarmann beseitigte notdürftig alle Spuren, sagte jedoch aus, dass Grans die Leiche und das Blut gesehen haben müsse. Grans habe sich gefreut, als er den Anzug des Wittig sah, und habe zu Haarmann gesagt: „Fritz, du bist doch der Beste, auf dich kann ich mich immer verlassen.“
Haarmann wollte Grans den Anzug für 40 Mark verkaufen, änderte die Summe auf dessen Drängen aber in 20 Mark. Diese Abmachung wurde in einem Notizbuch festgehalten, das die Unterschriften von Haarmann und Grans trägt. Grans habe zu Haarmann gesagt, er solle den Preis senken, schließlich würden sie doch gemeinsame Sache machen. Nach dem Verbleib Wittigs habe Grans nicht gefragt. Haarmann habe allerdings gesagt, Wittig sei nicht mehr da.
Grans hingegen sagte aus, Haarmann sei auf Wittig scharf gewesen und habe ihn mit nach Hause genommen. Auch habe Grans nicht nach einem Anzug gefragt, sondern Haarmann habe ihm einen angeboten. Grans habe zudem die Leiche nicht gesehen. Grans’ Aussagen konnten jedoch nach Ansicht des Gerichts größtenteils durch andere Zeugenaussagen widerlegt werden. So sagte die Zeugin Engel aus, Haarmann habe sich verleugnen lassen, als Grans mit Wittig zum wiederholten Male zu Haarmann wollte. Grans habe Haarmann aber schließlich stellen können, und alle drei seien dann auf Haarmanns Zimmer gegangen. Die entscheidende Frage war schwer zu beantworten: War der Umstand, dass Haarmann Wittig immer wieder abgewiesen hatte, der Beweis dafür, dass Grans Haarmann zum Mord gedrängt hat? Oder wäre es nicht auch möglich, dass sich Haarmann selbst an den Wertgegenständen des Wittig bereichern wollte? Das Gericht entschied sich für die erste Variante und befand damit Grans für schuldig, Haarmann zum Mord angestiftet zu haben.
Das Schwurgericht sprach am 19. Dezember 1924 das Todesurteil über Haarmann wegen Mordes in 24 Fällen und über Grans wegen Anstiftung zum Mord im Fall Wittig aus. Zudem erhielt Grans im Fall Hannappel eine Zuchthausstrafe von 12 Jahren. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass bei Grans im Fall Hannappel Mitwisserschaft und im Fall Wittig Anstiftung vorlag. Die meisten Tatsachenfeststellungen beruhten auf den Aussagen Haarmanns, die das Gericht für wahr hielt, da es keinen Grund für Haarmann zum Lügen sah. Haarmann dachte nämlich, Grans könne gar nicht zum Tode verurteilt werden könnte, wenn er nicht selbst an einem Mord beteiligt gewesen war. Ferner sah das Gericht in Grans’ Aussagen nicht das Bemühen, die Wahrheit zu sagen, da viele seiner Aussagen durch Zeugen widerlegt wurden. Außerdem habe Grans durch eindeutige Zeichen versucht, sowohl Haarmann als auch Zeugen zum Schweigen zu bewegen. Deshalb könne das Gericht die Aussagen Grans’ nicht gleichwertig denen Haarmanns gegenüberstellen.
Das Gericht ging auch auf die Lebenssituation von Haarmann und Grans ein. Beide hatten längere Zeit zusammengewohnt und engen Verkehr miteinander. Deshalb und auch weil Haarmann aussagte, Grans von einer früheren Tötung erzählt zu haben, könne man davon ausgehen, dass Grans von den Vorgängen gewusst habe und nicht nur, wie er selbst angab, nebenhergelaufen sei.
Für Haarmann gingen einige letzte Wünsche in Erfüllung: Er musste nicht mehr in eine Irrenanstalt, bekam als Henkersmahlzeit Käse, Schinkenbrot und Zigarren und starb am 15. April 1925 ohne Gnade auf dem Schafott. Für Grans schien jegliche Hoffnung erloschen, als die eingelegte Revision verworfen und das Todesurteil rechtskräftig wurde. Doch da ereignete sich wenige Tage später eine kleine Sensation. Der Bote Lüters findet einen Brief von Fritz Haarmann an Grans’ Vater Albert. Unbemerkt hatte Haarmann in seiner Zelle einen vier Seiten langen Beichtbrief geschrieben, den er auf der Fahrt zu einem Ortstermin aus dem Auto geworfen hatte. In dem Brief beschuldigt Haarmann die Polizei, ihn durch schwerste körperliche Misshandlungen dazu gezwungen zu haben, Grans als Komplizen zu nennen.
Haarmann schreibt: „So war mir Gott helfe, ich sage hir die reine Wahrheit u mögte doch so gern mein Gewissen nicht vor Gott noch mehr Belasten ich der zum Tode verurteilte. Grans hatte überhaupt keine Ahnung das ich Mordete hat nie etwas gesehen. […] Wie nun meine Sachen entdeckt wurde betrefs Mord, so wurde ich durch die hiesige Polizei genötigt mit Gewalt durch Mißhandlungen Unwarheiten zu sagen, aus Angst um das ich keine Mißhandlungen mehr haben wollte, sagte ich nachher zu allen ja & habe dann Grans, durch Unwahrheit belastet. […] Grans wußte von keinem Mord, hat nie etwas gesehen hatte keine Ahnung. […] Grans hat sich noch nicht mal der Helerei bei mir schuld gemacht. Grans hat mir niemals einen Menschen gebracht, welcher mir zum Opfer fiel & hätte Grans gewust das ich Mordete dann hätte Grans es bestimmt verhütet.“
Es ist anzunehmen, dass dieser Brief Haarmanns, was die Folterungen und das eigene Geständnis angeht, weitestgehend wahr ist. Jedoch konnte damals noch niemand davon ausgehen, denn die Beweise hierfür wurden erst Anfang der 1990er-Jahre durch Friedhelm Werremeier entdeckt. Es handelte sich dabei um die Memoiren Hermann Langes, der damals zuständiger Kriminalinspektor war. „Dass ich die Memoiren Langes gefunden habe“, sagt Werremeier, „war ein riesiger Zufall. Wie aus dem Nichts hatte ich auf einmal dieses handschriftliche Manuskript in der Hand. Das lag zwischen irgendwelchen uninteressanten Notizen eines anderen Polizisten im Staatsarchiv. In diesen Memoiren steht ja erst, wie sie Haarmann zum Reden gekriegt haben. Dem hat auch bis heute keiner widersprochen. Das ist absolut glaubhaft.“
Lange beschreibt in seinen Erinnerungen, wie sich die Indizien gegen Haarmann häuften, dieser aber noch kein Geständnis abgegeben hatte und der Polizei die Zeit davonlief, weil sie Haarmann ohne Geständnis wieder hätten laufen lassen müssen. „In seiner Zelle hatten wir 4 gefundene Köpfe“, schreibt Lange, „in jeder Ecke einen hoch oben auf Brettchen befestigt, die Augenhöhlen mit rotem Papier beklebt, dahinter ein Wachslicht, das nachts brannte. In einer Ecke der Zelle, in einem Sack, lagen Menschenknochen, die wir in unmittelbarer Nähe der vorletzten Wohnung des Haarmann aus der Leine gefischt hatten. Darauf wiesen wir bei den Vernehmungen immer wieder hin und brachten zum Ausdruck, daß die Seelen der Toten zu den Gebeinen zurückfinden und ihn nicht mehr zur Ruhe kommen lassen würden, bis er seine Verbrechen gestanden habe. Dies hat dazu beigetragen, ihn mürbe und geständnisreif zu machen.“
Wären diese und andere Details, in denen es um Schläge mit einem Gummischlauch und Fußtritte in die Genitalien ging, damals ans Licht gekommen, man hätte Haarmann und Grans laufen lassen müssen, denn ein unter Schlafentzug und Folter zustande gekommenes Geständnis wäre für ungültig befunden worden. Das wusste natürlich auch Lange, der zudem dachte, dass Haarmann sofort weitermorden würde.
Nach Haarmanns Brief reichte Grans’ Rechtsanwalt einen Wiederaufnahmeantrag ein, und der Generalstaatsanwalt in Celle befürwortete die Umwandlung des Todesurteils in eine Freiheitsstrafe. Der Revisionsprozess begann am 12. Januar 1926. Es wurde gegen den mittlerweile 25-jährigen Grans jetzt nicht mehr wegen Anstiftung zum Mord, sondern nur noch wegen Mitwisserschaft verhandelt. Es war dasselbe Schwurgericht mit demselben Staatsanwalt und demselben Richter. Mit Haarmanns Beichte im Rücken, einem neuen Anwalt – dem angesehenen Dr. Hans Teich – und einer wegen der Foltervorwürfe unsicher gewordenen Polizei lief der zweite Prozess wesentlich besser für Grans.
Der befragte Kriminalinspektor Lange räumte ein, Haarmann habe zu ihm wiederholt gesagt, Grans habe Zuchthaus verdient, nicht aber den Tod. Der Zeuge Kommissar Rätz fügte hinzu, Haarmann habe ihm gebeichtet, Grans habe ihm Jungen allein zu geschlechtlichen Zwecken zugeführt. Doch gab es bei allen Vertuschungsversuchen auch eine Niederlage für die Polizei, die letztlich dazu führte, dass das Gericht Haarmanns Gegengeständnis in Bezug auf Grans glaubte. So gab ein Polizeibeamter unter Eid und auf Druck von Zeugenaussagen zu, Haarmann mit einem Gummischlauch geschlagen zu haben. Dies war zuvor von allen Beamten bestritten worden.
Warum das Gericht Grans aber nicht freisprach, sondern zu zwölf Jahren Zuchthaus und zwanzig Jahren Ehrverlust verurteilte, blieb ein Rätsel. Nach Theodor Lessings Ansicht wäre jedes andere Gericht zu einem Freispruch gekommen. Prozessbeobachter schrieben das Urteil Grans’ Arroganz zu.
Hans Grans kam nach seiner Verurteilung ins Zuchthaus Celle. Als Schwerverbrecher wurde er später von den NS-Behörden ins KZ Sachsenhausen, Bezirk Potsdam, eingewiesen, wo er die Häftlingsnummer 123 bekam und bis zur Befreiung des KZ im April 1945 inhaftiert war. Fast alle Akten wurden von der SS vor der Befreiung des KZ vernichtet, sodass eine Rekonstruktion von Grans’ Haftzeit unmöglich geworden ist. Wenige Akten existieren wohl noch in russischen Archiven, doch scheint der Zugang zu ihnen unmöglich.
Nach seiner Freilassung verliert sich die Spur von Hans Grans. Dass er wieder nach Hannover zurückgekehrt sei und einen Kiosk besessen habe, von dessen Fenster er auf eine gegenüberliegende Metzgerei mit dem Namen Haarmann geblickt habe, ist wohl nur ein Märchen. Der Strafverteidiger Erich Frey behauptete, man habe Grans einen neuen Namen gegeben und Grans sei danach Werkmeister in einer südwestdeutschen Großstadt gewesen. Bis heute sind diese Berichte unbestätigt.
Wie aus dem Nichts erschien dann am 19. Juni 1974, fünfzig Jahre nach Haarmanns Verhaftung, in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung ein Artikel über Hans Grans von Dieter Tasch. Über eine Art Rechtspfleger habe Tasch die Möglichkeit bekommen, Grans zu treffen. Voraussetzung: Grans’ Identität und Lebensumstände bleiben geheim. Grans, mittlerweile 73 Jahre alt, lebe unter neuem Namen mit seiner Frau wieder in Hannover. Tasch beschreibt Grans als einen verbrauchten und von der Haft gezeichneten Mann. Verbittert habe Grans gesagt, er habe seine Strafe mit insgesamt 22 Jahren in Haft mehr als abgesessen und sei nach seiner Zeit im KZ sogar noch in Sicherheitsverwahrung gekommen. Er bleibe bei seiner Aussage, zu Unrecht verurteilt worden zu sein. „Haarmann hat mein Leben verpfuscht“, zitiert Tasch Grans.
Nach unbestätigten Angaben starb Hans Grans Anfang der 80er-Jahre. Von offizieller Seite wie der Staatsanwaltschaft oder dem Amtsgericht Hannover ist nichts mehr zu erfahren.
TOBIAS PREMPER, 32, lebt als freier Autor in Hannover und ist Mitherausgeber der Kunstbuchreihe „Bremsspur“ ( www.bremsspur.net )