: „Abenteuerlust war immer dabei“
DER SCHORNSTEINFEGER Als Kind wollte Bernd Müller Tiefseetaucher oder Sprengmeister werden. Später entschied er sich für einen anderen gefährlichen Beruf: Fast ein halbes Jahrhundert lang arbeitete er als Schornsteinfeger. Ein Gespräch über Schmutz, Freiheit und die Frage, warum die Männer in Schwarz eigentlich Glück bringen
■ 82, wurde 1932 in Berlin geboren und ist „Urberliner in der vierten Generation“. Der Vater hatte in Mitte einen Kaufladen und fiel 1942 im Krieg, die Mutter musste ihn und seine zwei Brüder allein durchbringen.
■ Müller wuchs im Nikolaiviertel auf und lernte von 1948 bis 1951 das Handwerk des Schornsteinfegers. 1963 wurde er in Mahlsdorf als selbstständiger Bezirksschornsteinfegermeister zugelassen. 1988 begann er, alte Feuerstätten und Öfen zu sammeln, über 800 hat er zusammengetragen, die im Energiefabrik-Museum im sächsischen Knappenrode zu sehen sind. Ebenfalls 1988 beantragte Müller, der weder Mitglied der Partei noch der Massenorganisationen in der DDR war, ein Visum für Frankreich. Er wollte mit dem Fahrrad und seiner Schornsteinfegerkluft nach Paris fahren, um der Toten der Kriege zu gedenken. Erst nach dem Mauerfall konnte er sich auf die Reise machen. 1997 ging er in Rente.
■ Aus seiner ersten Ehe hat er zwei Töchter und einen Sohn, zwei weitere Kinder stammen aus seiner zweiten Ehe. Müller lebt in Mahlsdorf, wo im Wintergarten seines Hauses ein Ofen aus seiner Sammlung steht, weil der seiner Frau besonders gut gefällt: ein gusseisener Pyramidenofen aus Dänemark von 1912.
■ Im Berlin Story Verlag ist vor wenigen Wochen sein Buch „Zukunft ist ohne Vergangeheit nicht möglich. 50 Jahre Schornsteinfeger in Berlin“ erschienen. (boll)
INTERVIEW BARBARA BOLLWAHN FOTOS ERIK-JAN OUWERKERK
taz: Herr Müller, Sie haben fast ein halbes Jahrhundert als Schornsteinfeger gearbeitet. Und Sie haben als einer der Wenigen dieser Zunft über Ihre Arbeit ein Buch geschrieben: „Zukunft ist ohne Vergangenheit nicht möglich“. Warum wurden Sie zum Autor?
Bernd Müller: Den Beruf, wie ich ihn gemacht habe, gibt es heute nicht mehr. Es war damals harte, schwere Arbeit. Und ich bin überall hingekommen: ob Leichenschauhaus, Serumwerke, Schokoladenfabriken.
Wie sah Ihr Arbeitsalltag aus?
Wir hatten ungefähr 250 bis 300 Schornsteine täglich zu fegen, ich habe zwölf Stunden am Tag gearbeitet und oft sieben Tage die Woche. Ich hatte etwa 2.600 Grundstücke in meinem Gebiet Kaulsdorf, Biesdorf, Mahlsdorf und Hellersdorf zu betreuen, bei etwa 1.000 Grundstücken lag die Kehrgebühr unter einer Mark. Zusätzliches Geld brachten Neben- und Sonderarbeiten: Wir haben Dachstühle saniert mit heute verbotenem Holzschutzmittel, Laufbohlen verlegt, Schornsteinköpfe gemauert, Schornsteine abgedichtet, Eisenrohre in undichte Schornsteine eingesetzt, Müllabwurfanlagen gereinigt.
Und warum sind Sie nun zum Autor geworden?
Als die Kinder nach der Wende aus dem Haus waren, habe ich angefangen, meine Lebenserinnerungen aufzuschreiben. Ich möchte, dass die Menschen zufriedener sind und der Nachwelt hinterlassen, wie gut es uns heute geht. Nicht der ist reich, der viel hat …
Sondern?
… der ist reich, der nicht viel braucht. Ich bin einer der reichsten Menschen der Welt: Ich habe eine gute Frau, ein dichtes Dach, einen Kanten Brot zu essen, einen Schluck Wasser zu trinken, mein eigenes Bett, im Winter eine warme Bude, bin einigermaßen gesund. Die Armut von früher, wie ich sie gekannt habe, gibt es nicht mehr. Ich kenne keinen, der in der Küche ein Karnickel züchtet, damit er zu Weihnachten einen Braten hat. Ich kenne keinen, der aus Kartoffelschalen Puffer macht, damit er was zu essen hat. Und ich kenne keinen, der in seinem Blumenkasten Tabakpflanzen züchtet.
Welchen Berufswunsch hatten Sie als Kind?
Tiefseetaucher, Sprengmeister, Blitzableiterbauer. Alles gefährliche Berufe.
Sie haben sich dann allerdings für einen anderen Beruf entschieden, der auch nicht ungefährlich war.
Ich sah im Sommer 1948 Kinder beim Hopsespielen auf der Straße, und in einem Feld stand „Schornsteinfeger“. Da dachte ich: Das machste. Ich war ein sehr mieser Schüler und hatte überhaupt keine Lust auf Schule. Das war für mich Ballast hoch drei, und ich war froh, ade sagen zu können, als ich meine zehn Jahre rum hatte.
„Socken sind eines Fegers unwürdig“, schreiben Sie in Ihrem Buch. Wie kommen Sie denn zu dieser These?
Wenn wir durch 50 mal 50 Zentimeter große Schornsteine steigen mussten, ohne Steigeisen, Mauervorsprünge oder Löcher, nur über das blanke Mauerwerk, hatte man mit Strümpfen keinen Halt und musste barfuß gehen. Das war wirklich hart.
Auch privat tragen Sie seit Mitte der 50er Jahre keine Socken mehr, was Ihnen den Spitznamen „Barfußmüller“ einbrachte. Kommen Sie noch immer das ganze Jahr über ohne Socken aus?
Ich habe keine Strümpfe, keine Socken, keine langen Unterhosen, keine Handschuhe, keinen Schal und keine Kopfbedeckung. Ich war über 30 Jahre bei der Feuerwehr, und da ging es auch immer barfuß in die Knobelbecher rin.
Warum verzichten Sie auch privat auf Socken?
Mir ist einmal im Urlaub ein Socken verloren gegangen, und ich wollte in Erfurt einen nachkaufen. Ein Paar hat 12 oder 15 Mark gekostet. Das war damals mehr als ein Tageslohn, und ich wollte nur einen Strumpf kaufen. Das hat die Verkäuferin aber nicht gemacht. Da dachte ich, wenn ich im Beruf keine Socken trage, trage ich privat auch keine. Es war damals aber der Wunsch meiner Braut, fürs Standesamt Socken anzuziehen.
Haben Sie für Ihre künftige Ehefrau also eine Ausnahme gemacht?
Ich habe sie gefragt: Willste Socken, oder willste mich? Ich habe ohne Socken geheiratet.
Sind Sie gesund in Rente gegangen?
Ich habe nüscht, kein Wehwehchen. Ich war in meinem ganzen Leben nur zweimal krankgeschrieben.
Sie haben unter Bedingungen gearbeitet, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Haben Sie jemals Ihre Berufswahl bereut?
Nein, absolut nicht. Aber heute würde ich das nicht mehr machen.
Warum nicht?
Heute ist nicht mehr viel mit Abenteuerlust, das ist vorbei. Wir waren ja Brandverhüter, wenn man so will, und heute sind Schornsteinfeger Umweltschützer.
Gab es keine Momente, in denen Sie Ihren Beruf am liebsten an den Nagel gehängt hätten?
Nee. Es gab wenig Geld, die Arbeit war schwer, hart und schmutzig. Aber es hat mir gefallen, ich hatte Lust und Freude daran, und ein bisschen Abenteuerlust war auch dabei.
Was hat Ihnen an der harten Arbeit gefallen?
Alles. Andere hatten Rotlichtbestrahlung durch die Partei, ich nicht. Ich war weder Mitglied in der Partei noch in Massenorganisationen. Ob ich um sieben angefangen habe zu arbeiten oder halb acht, war egal. Hauptsache, ich habe meine Arbeit geschafft. Der Lohn im Verhältnis zum Industriearbeiter war bescheiden. Aber ich war frei und das war die Hauptsache. Und die Naturbeobachtungen, die ich von den hohen Schornsteinen aus machen konnte! Es war wahnsinnig interessant zu beobachten, wie die Wildgänse fliegen, die Schwalben, Störche und Rebhühner und wie die Wolken vorbeiziehen.
Sie erzählen in Ihrem Buch auch, wie Sie Kunden Mängelscheine für angeblich kaputte Schornsteinköpfe ausstellten, damit sie Steine für die Gartenlaube bekamen, oder wie Sie Aachener Kammgarnstoff in Westberlin kauften und sich in Ostberlin einen Anzug schneidern ließen für mehr als drei Wochenlöhne. An anderer Stelle spotten Sie über die maroden Schornsteine der Kommunalen Wohnungsverwaltung KWV, die Sie „Kann weiter verkommen“ nannten. Haben Sie nie überlegt, in den Westen zu gehen?
Mit dem Anzug wollte ich meiner Frau imponieren (lacht). In den Westen zu gehen war mir schon deshalb nicht möglich, weil ich verheiratet war und zwei Kinder hatte. Meine zwei Brüder, meine Mutter und die Verwandtschaft waren aber alle drüben.
Für DDR-Verhältnisse haben Sie sich ziemlich viel getraut: Sie haben lautstark Ihre Meinung gesagt, widersprochen und getrickst, statt sich blind an Vorgaben zu halten. Woher haben Sie die Chuzpe genommen?
Ich habe immer eine große Klappe gehabt. Meine Mutter war genauso eine freche Göre. Nachdem mein Vater gefallen war, kam jemand von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und sammelte Geld. Sie hat ihn achtkantig rausgeworfen und wurde zum Luftfahrtministerium zitiert. Meine Mutter hat auch Juden versteckt. Irgendwie habe ich das Freche wohl von ihr geerbt.
Haben Sie sich in der DDR mit dieser aufmüpfigen Art nicht ganz schön Probleme eingehandelt?
Ich habe einfach meine Arbeit gemacht; der Rest war mir egal. Hätte mich jemand gefragt, in die Partei einzutreten, hätte ich sofort aus allen Rohren geschossen. Ich hatte mit den Brüdern nichts im Sinn. Mächtig auf die Schnauze gefallen bin ich nur mit meiner ersten Frau. Ich habe den großen Fehler gemacht, dass ich zu viel gearbeitet habe und sich ein anderer um sie gekümmert hat.
Sie interessieren sich sehr für die Berliner Stadtgeschichte und haben in den 1980er Jahren angefangen, als Stadtführer Touristen vom alten Berlin zu erzählen, vom Leben „mittenmang“.
Ja, die Stadtführungen habe ich immer sonntags gemacht. Das lief über Mundpropaganda. Wir sind von der Nikolaikirche bis zur „Letzten Instanz“ in der Waisenstraße gelaufen. Das sind etwa 400 Meter und ich habe zwei Stunden dafür gebraucht, weil ich immer jede Menge Kindheitsgeschichten und von Leuten erzählt habe, die dort gewohnt haben. Lange Zeit habe ich auch am Nikolaikirchplatz Broschüren ausgestellt und verkauft, die ich über die Geschichte Berlins geschrieben habe. Vergangenes Jahr habe ich aufgehört, es ist mir dann doch zu viel geworden.
Sie haben auch Fahrten durch die Stadt mit einem eigenen Bus gemacht.
Durch eine Westerbschaft hatte ich einen Barkas-Bus bekommen, in den ich ein Mikrofon und Lautsprecher einbauen ließ. Vor Gemüseläden habe ich zum Beispiel diesen Reim aufgesagt: „Es braust ein Ruf wie Donnerhall, in Deutschland sind die Zwiebeln all, doch Erich sprach vor kurzem, auch ohne Zwiebeln kann man furzen.“
Hatten Sie keine Angst, Ärger zu bekommen?
Gehetzt habe ich nie, ich habe nur meine Meinung gesagt. Wenn die DDR länger existiert hätte, hätte man mich bestimmt eingesperrt, wegen verbotener Verbindungsaufnahme in den Westen.
Sie meinen Ihren verwegenen Plan, 1988 mit dem Fahrrad und in Schornsteinmontur von Berlin nach Paris zu fahren, um die Toten der Kriege zu ehren. Dazu hatten Sie Kontakt zu Bürgermeistern und Berufskollegen in Westdeutschland und Frankreich aufgenommen. Den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker baten Sie in einem Brief um die Befürwortung Ihres Ausreisevisums, die Cousine von Charlotte von Mahlsdorf half Ihnen bei der Übersetzung Ihrer Briefe ins Französische. Was hat Sie dazu bewogen, so etwas eigentlich Aussichtsloses zu wagen?
Ich kann nur Martin Luther zitieren: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Ich wollte das einfach machen.
Woher kannten Sie denn Charlotte von Mahlsdorf, „Lottchen“, die Frauenkleider trug und sich für Männer interessierte?
Als ich ein Familientreffen mit der Verwandtschaft aus dem Westen gemacht habe, habe ich alle in den Keller des Gründerzeitmuseums von Charlotte eingeladen. Aus Dankbarkeit habe ich Charlotte versprochen, umsonst den Schornstein zu mauern. Ich kannte sein ganzes Leben und er auch meins. Ich war, das muss ich einräumen, seinerzeit ein bisschen voreingenommen gegenüber Schwulen. Aber als er mir seine Sache erklärt hatte, hatte ich volles Verständnis.
Zu DDR-Zeiten hat es mit der Frankreichreise nicht geklappt. Sie sind dann im April 1990 mit dem Rad nach Paris gefahren. Wie war das?
16 Tage Regen, zwei Tage schön (lacht).
Diese Reise war doch ganz sicher etwas Besonderes.
Ja, ich hatte ein Tourenrad mit drei Gängen von meiner Mutter aus Westberlin und wollte eigentlich ein Vierteljahr vorher anfangen zu trainieren. Aber ich hatte keine Zeit und bin dann so losgefahren. Manchen Tag habe ich 150 Kilometer zurückgelegt. In Paris habe ich am Grabmahl des unbekannten Soldaten Blumen abgelegt, am Triumphbogen wurde die Straße für mich gesperrt, und ich habe auch Schornsteine gefegt. Oh Gott, oh Gott, oh Gott, was da für Dreck rauskam! Und Arschrunzeln hatte ich! Aber wer sich 40 Jahre mit DDR-Klopapier den Hintern gewischt hat, hat so einen harten Hintern, dass dem das nichts ausmacht.
Welche beruflichen Veränderungen brachte der Mauerfall?
Unsere Schornsteinfegerpreise waren von 1953 bis 1990 gleich. Mit der Wende ist die Bezahlung bedeutend besser geworden und auch die Arbeitsbedingungen wurden leichter.
Gab es Veränderungen, die Sie als negativ empfunden haben?
Nein. Aber unsere Kunden waren sauer, weil die Gebühren gestiegen sind. Ich möchte die DDR auf keinen Fall wiederhaben. Aber die Menschen waren gemütlicher. Wenn ich früher jemandem die Küche eingesaut habe, hieß es: Die Drecksau, du Mistschwein, und dann war es gut. Heute würde man mich verklagen.
Ende der 80er Jahre haben Sie begonnen, Öfen und Feuerstätten zu sammeln. Wie hat das angefangen?
Ich hatte in Hellersdorf Schornsteine gereinigt und bekam auf der Straße mit, wie ein fünfjähriger Knabe seine Mutter fragte, was ich für ein komischer Onkel sei. Die Mutter sagte ihm, dass ich Schornsteinfeger sei. Da dachte ich, wenn Kinder nicht mehr wissen, was ein Feger ist, dann wird es Zeit, dass ich was tue. Ich habe mich gefreut, wenn die Sammlung wuchs und mein Vermögen schrumpfte (lacht). In der Sammlung gibt es eine Ofenplatte von 1480, Badeöfen, Jugendstilöfen, Bügeleisenöfen, Waschkessel, Leimherde, Stövchen, Notöfen bis hin zu einem DDR-Kochherd. Ofenmuseen gibt es mehrere. Aber meine Sammlung ist einzigartig in Deutschland, Europa und auch der Welt.
Mehr als 800 Öfen haben Sie zusammengetragen, aber Berlin wollte die Sammlung nicht. Jetzt ist sie im sächsischen Knappenrode zu sehen, wo es früher eine Brikettfabrik gab. Hat Sie das fehlende Interesse Ihrer Heimatstadt enttäuscht?
Ach, dass Berlin sie nicht wollte, was soll ich mich da aufregen?! Jalousien runter, loslassen, weg ist weg, Feierabend.
Warum bringen Schornsteinfeger eigentlich Glück?
Wenn ein Schornsteinfeger oben rumturnte und sich nicht Hals und Gräten brach, hatte er Glück. Und von diesem Glück wollten die anderen etwas abhaben.
Machen Sie sich Gedanken darüber, was für ein Spruch einmal auf Ihrem Grabstein stehen soll?
Nee, ich will verbrannt und in einer Urne auf dem Friedhof in Mahlsdorf bestattet werden, wo auch meine Mutter liegt. Hätte ich einen Grabstein, würde draufstehen: „Er kehrt nie wieder.“