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Archiv-Artikel

Den Kindern die Zukunft weggetrunken

Ihre Behinderung sieht man ihnen nicht an – das ist das Problem vieler Kinder, die durch Alkoholmissbrauch ihrer Mutter während der Schwangerschaft geschädigt sind. Das Fetale Alkoholsyndrom wird selten diagnostiziert. Das soll sich ändern: Morgen eröffnet die bundesweit erste Beratungsstelle

VON NANA GERRITZEN

Stefanie A.* hat seit mehr als sechs Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken. Die 39-Jährige geht zwei- bis dreimal wöchentlich zu den Anonymen Alkoholikern und arbeitet ehrenamtlich bei der Berliner Tafel. Stefanie A. hat hart an sich gearbeitet: Von den bundesweit rund 2,5 Millionen Alkoholoabhängigen schaffen es nur 30 Prozent, langfristig trocken zu bleiben. „Ich wünschte nur, ich hätte den Absprung früher geschafft“, sagt sie. Denn für ihren Sohn Max* kam ihre Einsicht zu spät.

Bundesweit leiden rund 10.000 Kinder am Fetalen Alkoholsyndrom (FASD). Max ist eines von ihnen. Die Krankheitsbilder von FASD-Kindern reichen von Verhaltensauffälligkeiten wie Lernschwächen und Aufmerksamkeitsdefiziten bis zu Schädigungen des Zentralen Nervensystems. FASD ist sehr facettenreich: Um es richtig zu diagnostizieren, ist die Zusammenarbeit von ausgebildeten Fachleuten, Ärzten verschiedener Fachrichtungen und Neuropsychologen erforderlich. Doch das passiert nur selten.

Ein Großteil des deutschen Fachpersonals ist zudem nicht hinreichend über FASD aufgeklärt. Diagnosezentren wie in den USA existieren in Deutschland nicht. Die Folge: FASD wird gar nicht oder erst sehr spät erkannt. Ohne Diagnose haben Kinder mit FASD jedoch eine schwere Zukunft: Sie bekommen keine Therapie und keine Unterstützung. Einige Psychologen, Sozialpädagogen und Ärzte wollen das ändern: Morgen eröffnet im Spandauer Kinderheim Sonnenhof die bundesweit erste Beratungsstelle für alkoholgeschädigte Kinder und Jugendliche.

Stefanie A. ist seit einem Jahr Alkoholikerin, als sie 1995 mit Max schwanger wird. Sie versucht, vom Alkohol wegzukommen: „Aber ich hatte meine liebe Mühe damit“, sagt sie heute. Bei Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft sei sie nie gefragt worden, ob sie trinke. Dass der übermäßige Alkoholkonsum ernsthaft gesundheitsschädlich für das Ungeborene sei, habe sie nicht gewusst; außerdem habe sie Hemmungen gehabt, ihr Problem zuzugeben und Fremde um Hilfe zu bitten.

Als Max auf die Welt kommt, ist er kleiner und unruhiger als andere Säuglinge. Am Wochenbett habe Stefanie A. den Schwestern anvertraut, dass sie regelmäßig Alkohol konsumiere. Doch Hilfe sei ihr nicht angeboten worden. Auch während der Stillzeit hat sie nicht mit dem Trinken aufgehört. Erst als sie Jahre später angetrunken zu einem Termin beim Jugendamt erschienen ist, sei man auf sie aufmerksam geworden.

In Zukunft soll das schneller gehen. Ziel der FASD-Beratungsstelle ist es, Ärzte, Psychologen, Erzieher, (Pflege-)Eltern und Betroffene über FASD aufzuklären, die Diagnostik zu fördern und Therapiemöglichkeiten aufzuzeigen. „Neben der Beratung müssen wir Öffentlichkeitsarbeit leisten“, sagt Christiane Frost, eine Mitarbeiterin der Beratungsstelle. Betroffene und Erzieher, aber auch die Öffentlichkeit müssten mit dem Thema konfrontiert werden.

Doppelt bestraft

„Wir wollen verhindern, dass die Kinder doppelt und dreifach bestraft werden“, erklärt auch Gela Becker-Klinger, die fachliche Leiterin des Kinderheims Sonnenhof. „Das erste Mal von FASD gehört habe ich Mitte der 90er-Jahre“, erinnert sich die 46-Jährige. Dabei gab es während ihrer nunmehr 20-jährigen Tätigkeit im Sonnenhof immer alkoholgeschädigte Kinder im Heim. Mangels Aufklärung und Diagnosemöglichkeiten habe das bis vor zehn Jahren aber niemand gewusst.

„Bei einigen Kindern hatte man den Eindruck, da stimmt was nicht“, erzählt Becker-Klinger, „wir standen vor einem riesigen Pool an Verhaltensauffälligkeiten. Die Kinder haben gestört, gestohlen und hatten keinerlei Regel- oder Konsequenzverständnis.“ Als eine Psychologin sie auf FASD hinwies, sei das wie ein fehlendes Puzzlestück gewesen. „Plötzlich war alles klar. Wir konnten einordnen, was mit den Kindern los ist.“

Seit zehn Jahren kämpft Becker-Klinger inzwischen für die Belange von FASD-Betroffenen. Von den derzeit 51 Kindern und Jugendlichen im Sonnenhof sind 20 alkoholgeschädigt. Während ihrer Arbeit ist Becker-Klinger schon auf viele Widerstände gestoßen. „FASD ist ein Problem der Unterschicht, und die hat eben keine starke Lobby“, sagt die Psychotherapeutin. Von Behördenseite gebe es immer wieder das Vorurteil, die Krankheit sei ein Vorwand, um „Sozialleichen“ zu deckeln. „Dabei ist FASD eine eindeutig diagnostizierbare Behinderung unterschiedlicher Schweregrade.“

Kindliches Gesicht

Max, der Sohn von Stefanie A., sieht man die Behinderung nicht auf den ersten Blick an. Der kleine blonde Junge mit dem dunkelblauen Pokémon-Pulli tobt mit zwei anderen Kindern auf dem Flur seiner Wohngruppe im Sonnenhof. Nur seine Größe und sein kindliches Gesicht unterscheiden ihn von seinen Altersgenossen. „Vielleicht auf sechs, höchstens sieben Jahre schätzen ihn die meisten, die ihn nicht kennen“, erzählt Elke Peters, Erzieherin der Gruppe Luna. Tatsächlich ist Max schon elf. In seiner Gruppe ist er der älteste Junge – und doch der kleinste. Das ist nicht sein einziges Problem.

Seit fünf Jahren lebt Max in einer Kleingruppe des Kinderheims. Er hat einen starken Sprachfehler, der auch durch jahrelange Besuche bei einer Logopädin nicht behoben werden konnte. Nur Menschen, die täglich mit ihm zu tun haben, können seinen Sprachfehler entschlüsseln und ihn verstehen – wie bei Kleinkindern, die gerade sprechen lernen. Max hat zudem keinerlei Zeitgefühl und ein sehr schlechtes Gedächtnis, leidet an Schlafstörungen, wird manchmal zusammenhangslos aggressiv und verstößt immer wieder gegen Regeln. Verbote und Strafen kommen bei ihm nicht an. „Nicht weil er böse ist“, betont Becker-Klinger, „sondern weil ihm die geistige Grundlage fehlt, Handlungen und damit verknüpfte Konsequenzen in einen Zusammenhang zu bringen“.

Bis zum Alter von sechs Jahren gingen die behandelnden Ärzte davon aus, Max sei einfach langsamer als andere Kinder. Erst durch die im Kinderheim veranlasste Diagnose hat man festgestellt, was ihm wirklich fehlt: Durch massive fetale Alkoholeinwirkung ist Max’ zentrales Nervensystem geschädigt. Seine Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen sind auf die Hirnschädigungen zurückzuführen und somit irreparabel. In einem Alter, in dem gesunde Kinder auf die höhere Schule wechseln, lernt er in der Sonderschule für behinderte Kinder gerade Lesen und Schreiben. „Und das ist schon ein sehr großer Fortschritt“, sagt die Heimleiterin. Ohne fremde Hilfe wird er nie leben können. „Zumal seine Aufnahmefähigkeit in absehbarer Zeit abgeschlossen ist“, erklärt Becker-Klinger. Während der Teenager-Jahre tritt bei alkoholgeschädigten Kindern eine Entwicklungssperre ein. Sie bleiben dann ihr Leben lang auf einem Entwicklungsstand stehen, der deutlich unter dem normal entwickelter Jugendlicher liegt.

Verbreitetes Problem

„Ansetzen muss man letztendlich in der Prävention“, sagt Becker-Klinger. Bereits in der Schwangerschaftsvorsorge könne angesetzt werden. „Es gibt keinerlei Beratung für schwangere Alkoholikerinnen – oft wird gar nicht über die Konsequenzen des Trinkens während der Schwangerschaft aufgeklärt.“ Dabei sei Alkoholismus in Deutschland ein Problem, das weit in die Gesellschaft hineinreiche.

Darüber hinaus müssten sich Ärzte und Professoren verstärkt mit dem Thema befassen, FASD müsse in die Forschung und ins Medizinstudium integriert werden. Denn einmal fehldiagnostiziert, sei der Werdegang von alkoholgeschädigten Kindern oft vorgezeichnet: Als verhaltensauffällige Pflegekinder missverstanden, passen sie in keine diagnostische Schublade, sitzen zwischen allen Stühlen und laufen als Erwachsene Gefahr, durch das soziale Netz zu fallen und zu verelenden. „Nur mit staatlicher Hilfe und kontinuierlicher Betreuung haben die Betroffenen die Chance auf ein Stück Glück“, sagt Gela Becker-Klinger.

Max hatte ein bisschen davon: Noch während seiner Kindheit wurde seine Behinderung diagnostiziert. Nur deshalb kann er im Kinderheim gezielt gefördert und für sein Leben in der Gesellschaft „trainiert“ werden. Er macht Fortschritte, kann kleine Erfolge feiern und hat vor allem eine Perspektive: Wenn er groß ist, wird er wohl mit anderen FASD-Betroffenen in einer betreuten Wohngruppe leben.

Stefanie A. tut es weh, zu sehen, dass ihr Kind nicht normal leben kann. Einen Nachmittag in der Woche besucht sie ihren Sohn. Dann reden oder spielen sie. Seit kurzem liest er ihr auch mal kurze Sätze aus Kinderbüchern vor. „Max weiß, dass er anders ist“, sagt Stefanie A. Warum er anders ist, weiß er nicht. Wenn er älter ist, soll er es erfahren.

* Namen geändert