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Archiv-Artikel

Krankenhäuser sollen Beweise sichern

RECHTSMEDIZIN Gewaltopfer gehen oft nicht sofort zur Polizei. Ohne Strafanzeige nehmen aber viele Kliniken auch aus Kostengründen bei vergewaltigten PatientInnen keine Spurensicherung vor. Ein Pilotprojekt an achtzehn niedersächsischen Krankenhäusern soll Abhilfe schaffen und eine standardisierte Untersuchungs-Methode erproben

VON JOACHIM GÖRES

Viele Frauen, die geschlagen, misshandelt oder vergewaltigt worden sind, wollen den Täter erst mal nicht anzeigen. Werden die Opfer aber nicht kurz nach der Tat ärztlich untersucht, wie es nach einer Strafanzeige geschieht, fehlen später die nötigen Beweise, sollten sie doch zur Polizei gehen. Vor allem Rechtsmedizinische Institute bieten Gewaltopfern eine kostenlose Untersuchung sowie Beratung an. Und an 18 niedersächsischen Kliniken läuft derzeit ein Pilotprojekt, um Beweise auch ohne vorherige Anzeige sichern zu können.

Das Hamburger Uni-Klinikum setzt Standards

Vorreiter ist das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, das 1999 eine rechtsmedizinische Untersuchungsstelle für Opfer von Gewalt eingerichtet hat. 1.200 Personen ab 14 Jahren werden hier pro Jahr von Rechtsmedizinern betreut, bei Vergewaltigungen gemeinsam mit einem Gynäkologen. Ganzkörperuntersuchung, Fotodokumentation der Verletzungen, gerichtsverwertbare Sicherung der Spuren sowie Beratung über psychologische Hilfsangebote gehören zum Standard.

„Bei Partnerschaftskonflikten gibt es den höchsten Anteil an lebensgefährlichen Verletzungen“, sagt die Leiterin Dragana Seifert. „Bei jedem dritten Opfer, das häufiger zu uns kommt, sind drei und mehr Körperregionen betroffen.“ 30 Prozent der PatientInnen kommen von sich aus, häufig wollen sie nicht die Polizei einschalten.

Seifert hat 2011 im Namen der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin gemeinsam mit Kolleginnen Empfehlungen für den Umgang mit Gewaltopfern erarbeitet. Dazu gehören Punkte, die Außenstehende als selbstverständlich betrachten– in der Praxis sieht es oft anders aus. „,Machen Sie sich unten rum schon mal frei, der Arzt kommt gleich‘ – so eine Anweisung nach einer Vergewaltigung geht nicht, man muss erst mal miteinander reden“, sagt Seiferts Mitautorin Sibylle Banaschak, Rechtsmedizinerin am Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Köln. Sie betont, dass Rechtsmediziner Spuren sichern und nicht therapeutisch tätig werden.

Eine vergewaltigte Frau sollte durch eine Frau untersucht werden – auch dies ist in der Realität nicht immer möglich, weil es lange kaum Rechtsmedizinerinnen gab. Innerhalb von vier Tagen nach der Tat sollte die Untersuchung durchgeführt werden, die Pille danach sollte zum Beratungsangebot gehören.

Die Pille danach ist noch nicht selbstverständlich

„In Norwegen gibt es die Pille danach automatisch nach einer Vergewaltigung, in Deutschland ist das leider noch nicht so“, unterstützt Josef Frasunek diese Forderung. Frasunek ist Chefarzt an der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe der Helios-Albert-Schweitzer-Klinik Northeim, eines von 18 Krankenhäusern in Niedersachsen, die derzeit am Modellprojekt Netzwerk Pro Beweis teilnehmen. Seit 2012 werden dort Opfer von häuslicher und sexueller Gewalt nach einem standardisierten Verfahren kostenlos ärztlich betreut, ohne eine Strafanzeige stellen zu müssen. Dafür wurden 250 Ärzte der teilnehmenden Krankenhäuser speziell geschult.

„Eine Untersuchung dauert rund 90 Minuten“, sagt Peter Hillemanns, Direktor der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe an der Medizinischen Hochschule Hannover. „Durch die standardisierten Dokumentationsbögen und die speziellen Spurensicherungssets werden Fehler vermieden, die sonst entstehen können, weil der einzelne Arzt eher selten mit solchen Fällen zu tun hat und ihm die Routine fehlt.“

In den meisten ländlichen Regionen müssen Gewaltopfer lange Wege auf sich nehmen, um Spuren sichern zu lassen – im Landkreis Celle beispielsweise müssten sie bis zu 80 Kilometer nach Hannover fahren. „Es gibt nicht wenige Frauen, die kleine Kinder haben und nicht wissen, wie sie das kurzfristig organisieren sollen oder denen schlicht das Geld für die Fahrt fehlt“, sagt Dagmar Wendland, Sozialpädagogin bei der Beratungs- und Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt in Celle.

Woher kommt aber die Angst, sich an die Polizei zu wenden? Für die Sozialpädagogin Silvia Fauth, Leiterin der Bestärkungsstelle Hannover, gibt es viele Gründe: die Angst, den Partner zu verlieren. Die Furcht, dass er seine Drohung „Wenn Du zur Polizei gehst, schlag ich dich tot“ wahr macht. Schuldgefühle den Kindern gegenüber, denen sie den Vater nicht wegnehmen wollen. Das Misstrauen, mit den Anschuldigungen überhaupt ernst genommen zu werden. Sätze wie „Die glauben dir Schlampe doch sowieso nicht“ würden viele Opfer von ihrem Mann kennen. „Viele Frauen stehen unter Schock und brauchen lange, bis sie überhaupt mit jemandem darüber sprechen können“, so Fauths Erfahrung. „Manche Opfer können sich erst nach langer Zeit aus der Beziehung mit dem Täter befreien.“ Oft würden sie sie sich erst nach wiederholten Angriffen zu einer Anzeige durchringen.

Auch der Arzt kann Anzeige erstatten

Auch Ärzte haben trotz Schweigepflicht die Möglichkeit, eine Strafanzeige zu stellen, wenn Patienten von ihnen Opfer von Gewalt geworden sind. „Nur in Notfällen, wie bei Gefahr für das Leben oder der Gefahr von Wiederholungstaten, ist das rechtlich möglich“, sagt Oberstaatsanwältin Petra Herzog, Abteilungsleiterin Häusliche Gewalt bei der Staatsanwaltschaft Hildesheim. Es sei aber sehr unwahrscheinlich, dass ein Arzt bestraft wird, wenn er einen weniger schwerwiegenden Fall anzeigt, ohne dass das Opfer ihn von der Schweigepflicht entbunden hat.

Nach Herzogs Angaben werden nur 20 bis 30 Prozent der Anzeigen wegen häuslicher oder sexueller Gewalt zur Anklage gebracht. „Es gibt einen hohen Prozentsatz eingestellter Verfahren, unter anderem wegen nicht ausreichender Beweise oder weil die Anzeige zurückgezogen wird“, sagt sie. Experten gehen davon aus, dass nur in fünf Prozent der Fälle von sexueller Gewalt und zehn Prozent von häuslicher Gewalt eine Anzeige erstattet wird.

Umso wichtiger sind nach Ansicht von Lilly Graß, Rechtsmedizinerin an der Akademie für öffentliches Gesundheitswesen Düsseldorf, Veränderungen an deutschen Krankenhäusern. „Viele Krankenhäuser sehen sich generell nicht in der Verantwortung, vergewaltigte Patientinnen und Patienten, die ohne vorherige Anzeige und ohne Polizei zu ihnen kommen, einschließlich einer Befund- und Spurensicherung zu versorgen“, schreibt Graß zusammen mit Angela Wagner in einer Situationsbeschreibung für den Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe. „Sie verweisen schnell auf die für sie ,zwingend‘ erforderliche Anzeige und tragen so auch dazu bei, dass vergewaltige Frauen abgewiesen werden und dadurch unzureichend versorgt oder gar medizinisch unversorgt bleiben.“

Die Kliniken bekommen nur 24 Euro

Beim Verhalten der Krankenhäuser spielt auch der Kostenfaktor eine Rolle: Ohne Beauftragung durch die Polizei wird für die aufwändige Untersuchung nur eine Notfallpauschale in Höhe von rund 24 Euro gezahlt. In der Notfallambulanz des Allgemeinen Krankenhauses Celle (AKH) zum Beispiel werden misshandelte Frauen untersucht und versorgt, Spuren aber nicht gesichert. „Das können wir nicht leisten“, sagt AKH-Sprecherin Franziska Bauermeister. „Das ist auch eine Kostenfrage.“

Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe hat unter www.frauen-gegen-gewalt.de bundesweite Beratungsangebote zusammengestellt