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Archiv-Artikel

Schützt eure Villen im Tessin

GESCHICHTSLOS Im Neuen Berliner Kunstverein wurde diskutiert, ob Kunst heute politisch sein kann

„Wir wollen Sonne statt Reagan, ohne Rüstung leben.“ Vielleicht hatte Harald Welzer das Beispiel eines legendären musikalischen Springteufels im Kopf, als er am Donnerstag für eine Kunst plädierte, die den Kommentar verweigert. Alt genug wäre der 1958 geborene Erinnerungsforscher, Soziologe und Sachbuchautor aus Essen, um daran teilgenommen haben zu können. Auf dem Höhepunkt der Proteste gegen die Atomraketen gab Joseph Beuys 1982 vor dem Bonner Hauptbahnhof den röhrenden Rockstar. Einfältiger war Agitprop nie. Aber er kam an.

Natürlich hatte Welzer recht, als er auf der Podiumsdiskussion „Kann Kunst politisch sein?“ des Neuen Berliner Kunstvereins (n.b.k.) via Skype darauf beharrte, dass Kunst „Möglichkeitsräume jenseits des Gewöhnlichen“ bereitstellen müsse, statt mit dem Journalismus zu konkurrieren. Schon klar: Niemand wünscht sich Leitartikel der Kunst zu Fukushima oder Libyen. Auch wenn man sich fragt, welche Bilder wohl ein John Heartfield des 21. Jahrhunderts für das Netzwerk der kriminellen Eliten fände, auf deren Konto die Weltfinanzkrise geht. Aber kaum jemand würde heute ernsthaft aufwärmen, was der italienische Künstler Renato Guttuso 1968 von der Kunst forderte: dass sie „Teil des revolutionären Prozesses sein“ müsse, „wie die Guerilla, die Barrikade“.

„Wenn ein Kunstwerk gut ist, stellt sich die Frage nach der politischen Wirkung später“, brachte die Künstlerin Karin Sander das vermittelte Verständnis künstlerischer Gesellschaftskritik auf den Punkt, das heute Mainstream ist. Ihre aktuelle Ausstellung in der n.b.k. gab ein sinnfälliges Beispiel für diese Art intellektueller Nachhaltigkeit. Denn dass die Papierabfälle, die durch Löcher in der Decke des Ausstellungsraums auf den Boden fallen und zu Skulpturen wachsen, eine Kritik an dem Machtsystem intendieren, der der Kunstverein neben aller Schönheitsproduktion auch ist, erschließt sich frühestens auf den zweiten Blick. Gerade die Hoffnung auf subtile politische Wirkung stand wohl auch hinter der Idee, die „Die Kunst der Aufklärung“ in Peking zu verbreiten.

Trotzdem sollte man das politische Kind vielleicht nicht derart mit dem kunsthistorischen Bade ausschütten, wie es an diesem Abend geschah. Wer die „Politizität von Kunst“ bestimmen will, wie der Kunstwissenschaftler Stefan Heidenreich, der den Abend moderierte; wer wie Harald Welzer wissen will, was das utopische Potenzial von Kunst sein könnte, darf ruhig mal einen Blick zurückwerfen. Schließlich reicht die beeindruckende Traditionslinie des beargwöhnten Genres von Gustave Courbet bis Liam Gillick. An ihr lässt sich studieren, dass politische Aussage und künstlerische Qualität einander nicht ausschließen. Marion Ackermann, die Chefin der Kunstsammlungen NRW in Düsseldorf, erinnerte an Max Beckmanns verstörendes Werk „Die Nacht“ von 1918/19, das mehr als nur eine metaphorische Antwort auf die Gräuel des Krieges war. Barbara Krugers Fotoarbeit „I shop therefore I am“ bleibt Kunst, aller Mimikry der Werbung zum Trotz. Und bedenkt man, wie die neoliberale Politik der letzten 20 Jahre die Gesellschaft entsolidarisiert hat, erscheint Joseph Beuys’ etwas angestaubte „soziale Plastik“ plötzlich wieder in einem attraktiveren Licht.

Sucht man nach der politischen Kunst nur noch auf der schmalen Strecke zwischen der relationalen Ästhetik des französischen Kritikers Nicolas Bourriaud und der institutional critique einer Andrea Fraser, wie es Stefan Heidenreich tat, hängt sie etwas geschichtslos in der Luft. Und man begibt sich ihrer Möglichkeiten. Sie kann unerhörte Form sein oder bloß das Konzept im Kopf. Sie darf aber auch auf den Agitprop eines Klaus Staeck zurückgreifen, der die deutschen Arbeiter im Wahlkampf 1972 warnte, dass die SPD ihnen ihre Villen im Tessin wegnehmen will. Je vielfältiger politische Kunst ist, desto wirkungsvoller ist sie. Und eins hat sie mit ihrer unpolitischen Zwillingsschwester gemeinsam: Gut muss sie sein. INGO AREND