: Dieser Schuppen voller Plunder
FANTASTIK Wiedergänger der Geschichte: Bei Hartmut Lange wirkt das Deutsche Historische Museum recht unheimlich – der Band „Im Museum“
VON JOCHEN SCHIMMANG
Etwas Ungreifbarem ganz nahezukommen, das ist das Unheimliche“, heißt es in den Notizheften von Henning Ritter. In ihrer Prägnanz ist diese Formel bestens geeignet, Hartmut Langes neues Buch „Im Museum“ zu charakterisieren, das in der Gattungsbezeichnung ausnahmsweise nicht als Novellenband daherkommt, sondern „Unheimliche Begebenheiten“ heißt.
Das Museum ist im Regelfall nicht gerade ein unheimlicher Ort. Und auch das Deutsche Historische Museum in Berlin, in dem Langes unheimliche Begegnungen stattfinden, wird an einer Stelle zunächst einmal als „Schuppen voller Plunder“ bezeichnet, allerdings von einem ehemaligen Leutnant der Stasi, der sich inzwischen seinen Lebensunterhalt als Wärter in diesem Museum verdient und froh darüber ist, „dass man es ihm erspart hatte, im Erdgeschoss, dort, wo der Zusammenbruch jener Verhältnisse, die ihn protegiert hatten, dokumentiert war, durch die Korridore zu gehen“. Freilich stößt er während seiner Tätigkeit auf eines seiner ehemaligen Opfer, einen Lektor, den er in der Normannenstraße früher eine Woche lang verhört hatte. Das Unheimliche dieser Begegnung besteht nun darin, dass der depravierte Exleutnant nach und nach seine Macht über ihn zurückgewinnt. Am Ende geht es in den Keller, der Lektor stolpert und „spürte, wie er das Gewicht verlor und wie er auf dem kalten, gefliesten, von Stiefeln umstandenen Boden aufschlug“.
Nun könnte man das noch als eine beinahe realistische Geschichte werten, denn dass die Opfer ihren Peinigern nie ganz entkommen, ist ein bekanntes Phänomen. Wenn dagegen sich nach der Schließung des Museums im Dunkel Hitlers Mutter und ihre bucklige Schwester Johanna treffen und auch der Führer selbst durch die Gänge schleicht, dann geht es in der Tat nicht mehr mit rechten Dingen zu: „Da bewegt sich jemand langsam und müde, als würde er Hände schütteln, hierhin und dorthin. Und trägt er nicht, tief in die Stirn gezogen, eine militärische Schirmmütze, die Europa, nein die halbe Welt, über ein Jahrzehnt zu fürchten hatte?“
Was die sieben Kapitel von Langes neuem Buch miteinander verbindet, ist der genius loci. Mögen Museen in der Regel tatsächlich eher harmlose Orte sein, so ist eine Institution, die sich Deutsches Historisches Museum nennt und noch dazu im Herzen von Preußen liegt, vielleicht doch nicht ganz so harmlos. Dass sie ein idealer Platz für die Wiederkehr der Geschichte, insbesondere ihrer unangenehmeren Abschnitte ist, leuchtet unmittelbar ein. Dabei muss aber nicht in jeder Sequenz die Stasi oder der Führer durch die Gänge spuken. Es reicht schon, wenn eingangs die Museumsangestellte Margarete Bachmann einfach verschwindet und nur ihren Pullover zurücklässt, der über einer ausgestellten Ritterrüstung hängt. Der Kollege, der ihr den Pullover ins obere Geschoss bringen will, findet sie nicht und erfährt schließlich in der Personalabteilung, dass eine Margarete Bachmann nicht mehr auf den Gehaltslisten steht. In einer anderen Geschichte findet ein Besucher den Ausgang nicht mehr (eine beliebte Traumsequenz, und dem Leser fällt ein, dass ja auch Freud sich Gedanken über das Unheimliche gemacht und es als „jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht“, charakterisiert hat), und im schönsten Kapitel des Bands stößt ein Volontär auf ein weinendes Mädchen, kurz danach auf dessen Mutter. Als er sie anspricht, „waren Mutter und Tochter, als wären sie eine Projektion, verschwunden“. Die Begegnung wiederholt sich jedoch, und diesmal erzählt die Mutter dem Volontär, was die beiden umtreibt.
Bei einem Autor, der über ein geringeres Können verfügte, wäre diese Geschichte in die Nähe der Peinlichkeit geraten; hier funktioniert sie ohne Weiteres. Überhaupt gelingt Lange, nicht zum ersten Mal, ganz unangestrengt das, was am wichtigsten ist, wenn man sich gleichsam auf das Feld der Fantastik begibt: den Leser davon zu überzeugen, dass alles hier Erzählte eigentlich ganz logisch und selbstverständlich ist. Das macht er mit sparsamen Mitteln. Die Selbstverständlichkeit beginnt schon damit, dass verschiedene Erzählperspektiven einander abwechseln, ohne dass man sich überhaupt die Frage stellt, wie das legitimiert ist. Denn da es funktioniert, ist das dem Leser vollkommen wurscht (oder auch: akademisch). Allerhöchstens der inflationäre Gebrauch des „jener“ oder „jene“, ein schon aus früheren Büchern bekannter Manierismus, stört wie immer ein wenig. Ansonsten ist Hartmut Lange auch hier ein erstklassiger Stilist, der eben gerade nicht „brillant“ ist.
„Im Museum“ ist sicher nicht als Summe eines Lebenswerks gedacht, da Lange hoffentlich weiterschreiben wird. Eine gewisse Konsequenz hat es aber, dass er seine sieben Geschichten an diesem einen Ort angesiedelt hat. Die leise Depression, die untergründige Traurigkeit, die Verunsicherung, die von ihnen ausgehen, sind nichts Neues bei diesem Autor, bei dem allerdings in der Rezeption oft der so feine wie zugleich bissige Humor übersehen wird. Wirft man aber einen Blick auf Hartmut Langes immense Novellenwerk, dann lässt sich im Lichte dieses neuen Buchs vielleicht sagen, dass dieser Autor sich längst sein eigenes Deutsches Historisches Museum gebaut hat.
■ Hartmut Lange: „Im Museum“. Diogenes Verlag, Zürich 2011,
114 Seiten,
19,90 Euro