Vergesst doch endlich mal den Ödipus!

RELEVANZ UND STIL Die achte Ausgabe des Magazin „Hate“ beschäftigt sich mit Müttern und Muttermythen

An allem ist immer die Mutti schuld. Das behauptet Juri Sternburg in einer vierseitigen Erzählung mit dem Titel „Sammelherzen“. Drei Themen werden in der aktuellen Hate abgehandelt und miteinander verwoben: Mütter, Monster, Mythen.

„Das Thema der Mutter ist in der aktuellen Debatte sehr präsent“, sagt Mitherausgeberin Nina Scholz. Insbesondere das weibliche Dilemma „Kind oder Karriere“ werde vor allem auf der politischen Ebene durchgeackert. „Wir fanden es spannend, tiefer in den Diskurskeller hinabzusteigen und uns mit dem unserer Ansicht nach stark vorbelasteten Konzept der Mutter zu befassen“, so Scholz.

Einige Exkurse unternimmt die neue Hate, wie beispielsweise über Autonepiophilie, „die harmloseste der aus der Norm fallenden Sexualpraktiken“, bei der einer der PartnerInnen die Rolle des Babys annimmt, um vom anderen, oft „Windelmutti“ genannt, dementsprechend verhätschelt zu werden. Vor allem aber widmet sich eine Mehrzahl der teils literarischen, teils essayistischen Beiträge dem Versuch, das Wesen der Mutter nicht wie gewohnt als Opfer, sondern als Mensch mit seelischen Abgründen und Verantwortung zu untersuchen.

„Die Mutter bestimmt das Handeln, im Leben wie auf dem Basar“, bekräftigt noch Juri Sternburg in „Sammelherzen“. Selbst wenn sie gleich nach der Geburt verschwindet, hinterlässt ihr Einfluss auf den Menschen, der man wird, tiefe Spuren. Manchmal auch Narben.

„Georg erzählt mir, er habe sich von seiner Mutter getrennt“, schreibt Sören Kittel in „Bathtub Scene“. Was wie ein kurzweiliger Streit zwischen Mutter und Sohn beginnt, entpuppt sich bald als die Folge von Kindesmissbrauch, der lange als solcher ignoriert wurde. Georg ist kein Einzelfall: 3 Prozent aller Sexualstraftäter seien Frauen, erläutert Kittel, „aber der emotionale Missbrauch ist so gut wie unmöglich zu erfassen“.

„Wie jede Form häuslicher Gewalt gehörte die Gewalt der Mutter zu den lange unausgesprochenen und tabuisierten Bereichen der bürgerlichen Gesellschaft“, bekunden Christiane Ketteler und Magnus Klaue in ihrem Essay „The Mother Next Door“, in dem beide AkademikerInnen sich mit der medialen Rezeption von Müttern als Mörderinnen auseinandersetzen. Und obwohl der gesellschaftliche Wandel Mütter ermutigen sollte, sich von der häuslichen Sphäre zu befreien oder diese als nur einen Teil ihres Lebens zu verstehen, verharren sie in einer aufopfernden Rolle, die Beruf und persönliche Entfaltung zu zweitrangigen oder gar unerreichbaren Zielen macht. Das tut den Kindern nicht immer gut. Und sie werden es später nicht besser machen. So versetzt sich Nina Scholz in die Rolle einer werdenden Mutter und schreibt an ihr fiktives Baby: „Ich hab all das, wovon der Traum des Erwachsenwerdens erzählt (…). Gleichzeitig habe ich das Wichtigste nicht geschafft: irgendetwas anders zu machen, irgendeine andere Lösung zu finden.“

Was hindert nun also die Frau, ihre Mutterrolle selbst zu definieren? Das Interview mit Barbara Vinken, Feministin und Autorin des Buchs „Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos“, liefert eine Antwort: Sie steht sich selbst im Weg. Weniger der Vater, sondern eher ein in den Köpfen fest verankerter Muttermythos drückt auf ihre Seele. Die Mutter gebiert und liebt. Punkt. Der Mythos führt direkt in die Identitätsfalle, aus der es aber einen Ausweg gibt. Wie Juri Sternburgs Mutter immer sagte: „Ödipus, Schnödipus, Hauptsache, du hast die Mama lieb!“ ELISE GRATON