: Kleine Leipziger Epiphanien
Buchmesserei (3 und Schluss): Unter tropfenden Dächern wurden am Donnerstag die Leipziger Buchpreise vergeben
Schnee! Donnerstagvormittag begann es in Leipzig zu schneien. Ab Mittag waren die Glasdächer der zentralen Halle auf dem Messegelände ganz mit Schnee bedeckt, ein schöner Effekt, wenn man aus den fensterlosen Hallen, in denen die Messestände sind, in sie hineintrat. Milchiges, sanftes Licht umfloss die Eiligen und die Schlenderer, die Gucker mit den Gratisgaben unterm Arm, die Wichtigtuer mit den Handys am Ohr, die Schüler, die Schriftsteller, die Journalisten und die Hobbybesucher der Leipziger Buchmesse. Es war wie in einer riesigen Raumstation, die mitten in der Wüste gelandet ist, um Zivilisation zu beherbergen. Später hatte der Schnee auf den Dächern auch unromantischere Auswirkungen. Hier und da begann es hindurchzutropfen.
Ansonsten: Messetreiben wie üblich. Um 14 Uhr verdichtete es sich zu so einem Moment, an dem man anschaulich erfahren konnte, was so eine Buchmesse ausmacht: das unverbundene Nebeneinander der Ereignisse. Auf der „Leseinsel der Jungen Verlage“ stellte Tom Kummer sein Erklär-, Aus-dem-Leben-plauder- und Autobiografiebuch vor; ein braungebrannter Lockenkopf auf einer kleinen Bühne vor einer mit lindgrünem Teppichboden ausgeschlagenen Freifläche. Und 30 Meter weiter, im sogenannten Berliner Zimmer, bekam der Literaturkritiker Hubert Winkels den renommierten Alfred-Kerr-Preis verliehen.
Man stand also zunächst ein paar Minuten bei den jungen Verlagen herum. Tom Kummer und eine junge Dame trugen zu Beginn sein – wie man weiß: fiktives – Interview mit Pamela Anderson vor. Dezente Rundblicke durchs Publikum: Die mit der Pop-Attitüde waren gekommen, diejenigen, denen Tempo noch etwas sagt, ein paar dekonstruktivistische Brillen und sonstige Neugierige.
Dann begann Tom Kummer ein bisschen stotternd aus dem neuen Buch vorzulesen, der Text schwärmte zunächst von Kalifornien, wo Kummer inzwischen lebt, ging dann über ins Persönliche und relativ zügig dachte man: Ach, mal schauen, was sonst noch so los ist. Also ging man die 30 Meter rüber zum Berliner Zimmer. Jochen Hörisch, vor 25 Jahren Doktorvater des Ausgezeichneten Hubert Winkels und jetzt Laudator, holte dort gerade weit aus, zog große ironische Bögen durch die Literaturkritik, gab Reich-Ranicki und Heidenreich ohne Namensnennung einen mit und schwelgte von dem Leseeifer, den Hubert Winkels schon als Student an den Tag gelegt hatte …
Wieder zurück zur Leseinsel. Tom Kummer wird inzwischen vom Chef des jungen Blumenbar-Verlages, in dem sein Buch herausgekommen ist, befragt. Kummer erzählt davon, wie er einst aus irgendeinem Grund zu einem Kongress eingeladen wurde, um etwas über die Zukunft des Körpers zu erzählen; als erste Maßnahme, so Kummer herzallerliebst, habe er sein Lufthansaticket upgegradet. Zurück im Berliner Zimmer, nennt Hörisch Winkels gerade einen „emphatischen Gnostiker“, was insofern hübsch ist, als Winkels in der Literaturdebatte, die den Betrieb neulich kurz in Atem hielt, die Emphatiker und die Gnostiker klar auseinanderhalten wollte.
Dann die Preisverleihung. Dann hielt Winkels – mit gnostischen Formulierung und emphatisch gepunkteter Krawatte – die Dankesrede. Er würdigte die Entheroisierung der Kritik und die Öffnung des literarischen Feldes. Zudem strotzte seine Rede vor gelassenem Selbstbewusstsein; schön ausdifferenziert sei die Literaturkritik derzeit, und einem Grass habe sie schon lange vor der SS-Beichte die Luft rausgelassen. Nur eins mochte Winkels nicht unangeprangert lassen: den Hang zur „appellativen Subjektivität“ à la, so Winkels, „Ich bin im Text, dort wirst du, lieber Leser, dich auch wiederfinden.“ So etwas imitiert für Hubert Winkels nur marktgerecht Erregungszustände. So trank man dann einen Sekt, während 30 Meter weiter auf der Leseinsel die Veranstaltung schon beendet war und nur noch ein paar Leute diskutierten, was sie als nächstes machen sollten.
Irgendwann später dann unter den tropfenden Dächern die heiß erwartete Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse. Es beginnt mit einer seltsamen Eröffnungsrede, in der Michael Naumann flaue Witze und schon mal Wahlkampf als SPD-Spitzenkandidat macht. Die Preise gingen dann, allgemeine Ansicht hinterher, schon in Ordnung. Wer Swetlana Geier, die große Dame der Dostojewski-Übersetzung nach Leipzig holt, muss ihr auch den Übersetzerpreis geben. An Saul Friedländer und seinem Werk „Die Jahre der Vernichtung“ kam man, wie eine Jurorin hinterher informell formulierte, „sowieso nicht vorbei“.
Klitzekleiner Makel: Eigentlich sind die Leipziger Preise für deutschsprachige Publikationen vorgesehen, Friedländers Werk wurde aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Aber darüber mochte sich niemand wirklich aufregen. Und der Belletristikpreis an Ingo Schulze und seinen Erzählband „Handy“ geht natürlich auch klar. Auch wenn es eigenartig risikolos wirkt, von allen erzählerischen Büchern des Frühjahrs dieses eine so herauszuheben. Immerhin: Ingo Schulze ist der Autor, auf den sich alle einigen können.
So geht die Messe dahin. Und abends und nachts stapft man durch das buchversessene eingeschneite Leipzig von Lesung zu Lesung und Empfang zu Empfang. Von einer kleinen Epiphanie gilt es noch zu berichten. Beim Empfang des Beck-Verlages saß ich schräg hinter dem Ehrengast Saul Friedländer und blickte mehrere Stunden auf den vollen, grauen, sorgfältig frisierten Haarschopf des Preisträgers. Ein Mann, der so eindringlich den Holocaust zu schildern versteht und dennoch – oder vielleicht gerade deswegen? – Sinn hat für die kleinen Eitelkeiten und Freuden, die das Leben ausmachen! So steht dieser Autor nicht nur mit seinem Werk, sondern auch mit seiner Person bis in die Haarspitzen ein gegen den Zivilisationsbruch. DIRK KNIPPHALS