: „Das Land hat mich berauscht“
Ein Gespräch mit dem Budapester Hochschullehrer und Cafébetreiber Wilhelm Droste über seine „innere Heimat“ Ungarn. Über bedingungslosen Optimismus, enorme Realitätsschocks und eine „viel zu große Hauptstadt für ein viel zu kleines Land“
WILHELM DROSTE, geb. 1953, Allendorf, Sauerland, ist Herausgeber der deutsch-ungarischen Zeitschrift Három Holló/Drei Raben, Übersetzer und Vermittler moderner und zeitgenössischer ungarischer Literatur im deutschen Sprachraum, Gründer der Kaffeehäuser Dürer auf dem Universitäts-Campus und Café Eckermann im Goethe-Institut in Budapest. Er schreibt regelmäßig für deutsche Zeitungen, unterrichtet Germanistik an der Budapester Eötvös-Universität und arbeitet auf dem Gebiet der vergleichenden Literaturwissenschaft über einen deutschen und einen ungarischen Lyriker der Jahrhundertwende: Rilke und Ady.
INTERVIEW AIMÉE TORRE BRONS UND MARTIN HAGER
taz: Sie sind schon in den frühen 70er-Jahren nach Ungarn gegangen, zu einer Zeit, in der es in Westdeutschland nicht üblich war, sich für diese Region zu interessieren. Was hat Sie damals an Ungarn gereizt?
Wilhelm Droste: Wie meine ganze Generation war ich wild entschlossen, die Welt zu verändern. Manche hatten ihre Vorbilder in China, manche in Albanien. Ich hatte Sympathien für real existierende Länder, aber absolut keine für die DDR. Im Ostblock, hatte ich gehört, gab es dieses merkwürdige Land mit den freundlicheren und herzhafteren Menschen. Außerdem gefiel mir das Wort „Ungarn“ mit der Vorsilbe „un“. Ich hatte das Gefühl, das ist ein Land, das verneint und war dann sehr enttäuscht, dass die Ungarn sich selbst Magyaren nennen, was mir nicht so sympathisch war.
Wie war denn der Abgleich mit der Realität?
Als ich 1972 zum ersten Mal mit Freunden nach Ungarn fuhr, war ich fürchterlich aufgeregt und sehr überrascht, dass die Realität meinen Träumen standhielt. Als ich ein Jahr später allein nach Budapest zurückkehrte, war es noch viel radikaler. Das hat mich regelrecht berauscht. Vor Begeisterung konnte ich eine Woche lang überhaupt nicht schlafen, weil ich das Gefühl hatte, den Ort meiner inneren Heimat gefunden zu haben. Dabei war gar keine Frau, keine Liebesgeschichte im Hintergrund, es war wirklich eine Ortsfaszination.
Wenn Sie Ungarn mit Deutschland vergleichen, was fällt Ihnen spontan ein?
Was mich nach Ungarn zog, war die Kunst, die ich bei den verschiedensten Leuten beobachten konnte, mit den unmöglichsten Verhältnissen gelassen und mit großem Schwung klarzukommen. Die Ungarn waren berühmt dafür, dass sie vier Arbeitsplätze gleichzeitig hatten, alle nicht so richtig ernst nahmen und irgendwie doch ernst nahmen. Dieses funktionierende Chaos hat mich sehr fasziniert. Inzwischen hat sich das allerdings sehr stark verändert. Mit dem Systemwechsel kam den Ungarn diese spielerische Fähigkeit relativ schnell abhanden. Sie hatten das Gefühl, innerlich schon längst im Westen angekommen zu sein, und mussten dann erfahren, dass sie eine ganz normale Transformationsgesellschaft waren, wie die DDR, wie Polen. Das hat vielen einen enormen Realitätsschock versetzt. Obwohl das Land sich wirtschaftlich stabilisiert, kämpfen viele Leute mit enormen Schwierigkeiten, die es im Sozialismus nicht gab.
Ist das ein Grund für die Krawalle im letzten Jahr zur 50-Jahr-Feier des Aufstands von 1956?
Das sind eindeutig aufgestaute und nicht bewältigte Frustrationen, die sich regelmäßig entladen. Früher gab es ein funktionierendes Feindbild: Die Ungarn glaubten, wenn sie von der Sowjetunion losgelassen werden, dann verwandelt sich das Land innerhalb von drei Monaten in ein Paradies. Es stellte sich aber heraus, dass das nicht der Fall war. Deswegen entwickelte sich in diesem Volk sehr schnell ein inneres Feindbild: Der Nachbar ist der Feind, der Bruder ist der Feind. Daher rührt dieser Riss durch das ganze Land, die zwei politischen Lager, die in ihren Dummheiten zum Verwechseln ähnlich sind, auch wenn die einen behaupten, liberal und links und die anderen konservativ, national und rechts zu sein. Ich kann das ganze politische Leben nicht mehr richtig ernst nehmen und nehme deswegen auch diese Krawalle nicht besonders ernst.
Gibt es heute überhaupt noch Gründe, nach Ungarn zu fahren?
Die Jugend, die mir begegnet, wenn ich an der Universität Germanistik unterrichte, ermutigt mich enorm. Budapest wird im Moment zumindest zu einem Achtel abgerissen, und in diesen Abrisslandschaften gibt es hochinteressante Kneipen und ein spannendes Nachtleben. In der jungen Generation sehe ich genau die Eigenschaften aufblühen, die mich Anfang der 70er-Jahre hierher getrieben haben, nämlich dieser bedingungslose Optimismus.
Kristián Grescós Buch „Lange nicht gesehen“ ist gerade auf Deutsch erschienen. Wenn man dieses Buch liest, das auf dem Land spielt, hat man das Gefühl, in archaische Zeiten zurückversetzt zu sein? Ist Ungarn tatsächlich stehen geblieben?
Es sind zwei deutlich getrennte Welten. Provinz und Hauptstadt, das sind im Grunde genommen zwei verschiedene Lebensphilosophien. Budapest ist eine viel zu große Hauptstadt für ein viel zu kleines Land. Jeder Vierte oder Fünfte wohnt in Budapest und diese Stadt zeigt eine hochgradige Arroganz. Man meint, nur von Budapest aus hätte man einen Sinn für die Welt, und in der Provinz wäre man zur Vertrottelung verurteilt. Das sind sehr scharfe Gegensätze, und je weiter man gerade auch in den Osten kommt, desto mehr sind die alten Welten intakt. Diese Freundlichkeit und Herzlichkeit, die ich in den 70er-Jahren gespürt habe, die spüre ich immer noch sehr deutlich, wenn ich in kleine Städte im Osten fahre.
Einer ihrer vielen Berufe ist Kaffeehausbetreiber. Welche Gründe gibt es denn, Ihr Café Eckermann in Budapest zu besuchen?
Cafés waren für mich eigentlich immer der Versuch einer Gegenwelt in der Welt und im Grunde halte ich Cafés für die potentesten therapeutischen Einrichtungen, die sich die Menschheit bis jetzt hat einfallen lassen. Ich merke inzwischen an manchen Leuten, dass sie dieses Café wie eine Insel aufsuchen, benutzen und mit der entsprechend erholten und therapierten Kraft, die man auf so einer Insel tanken kann, das Café wieder verlassen. Und wenn das zur Normalität wird, dann bin ich stolz auf dieses Café.