Um huldvolle Annahme bittend

JUBILÄUM Mit der „Sammlung Wagener“ erinnert die Alte Nationalgalerie an ihren historischen Ursprung, vergibt aber eine Chance, ihre Sammlungsgeschichte zu reflektieren

An der Identitätsstiftung eines deutschen Kulturideals war Wilhelm Wagener maßgeblich beteiligt

VON MARCUS WOELLER

Als in London 1824 die National Gallery eröffnete, war Preußen noch kulturelles Entwicklungsland. Es sollte fast vier Jahrzehnte dauern, bis in Berlin eine Nationalgalerie eingerichtet wurde. Doch für die Grundlage einer Sammlung, die das künstlerische Schaffen eines Volkes repräsentieren sollte, mussten in beiden Monarchien Privatleute sorgen. Die britische Regierung war allerdings aktiver: Sie kaufte die Sammlung des Kaufmanns John Julius Angerstein. In Berlin reagierten der Prinzregent und spätere Herrscher wie Kaiser Wilhelm I. lange nicht auf die Forderungen, eine Nationalgalerie einzurichten. Diesem wurde die Sammlung des Bankiers Joachim Heinrich Wilhelm Wagener gewissermaßen testamentarisch untergeschoben: ein cleverer kulturpolitischer Schachzug in Privatinitiative.

In diesem Jahr feiert die Nationalgalerie ihren 150. Geburtstag. Für die Jubiläumsausstellung im Gebäude der Alten Nationalgalerie haben die Staatlichen Museen nicht nur seit hundert Jahren nicht mehr gezeigte Gemälde aus den Depots geholt, sie inszenieren auch die eigene Sammlungshistorie als aufschlussreiches Geflecht aus Einzel- und Kollektivinteressen, Vorbehalten und Neubewertungen.

„Im Vertrauen auf das Urtheil vieler Kenner über den nicht unbedeutenden Kunstwerth der Sammlung … wage ich es“, schreibt Wagener 1851 nicht uneitel, aber protokollarisch geschickt in sein Nachlassdokument, „dieselbe Seiner Königlichen Hoheit … als ein Legat anzubieten und um huldreiche Annahme desselben im Interesse der Kunst unterthänigst zu bitten. Es knüpft sich an diese meine Bitte keinerlei andere Bedingung oder Beschränkung, als ich die in meinem obigen Wunsche für die ungetrennte Erhaltung, Aufstellung und Benutzung der Sammlung bereits auszusprechen mir erlaubt habe.“

Keinerlei Bedingung? Was politische Forderungen nicht vermocht hatten, bewirkte bei Wilhelm Schmeichelei. Wagener stirbt am 18. Januar 1861 im Alter von 79 Jahren. Kurz darauf nimmt der frisch gekrönte König die Schenkung von 256 Bildern an, und am 22. März eröffnet die „Wagenersche und National-Galerie“ im Akademiegebäude Unter den Linden.

Udo Kittelmann, heutiger Direktor der Nationalgalerie, preist die Sammlung genau 150 Jahre später nicht nur als den historischen Kern der Galerie, sondern auch als Geburt der Wertschätzung zeitgenössischer Kunst. Und diese Wertschätzung gebührt dem Privatsammler Wagener, der auch, aber eben nicht nur subjektiv sammelte, sondern mit dem Willen, eine Kollektion zeitgenössischer Kunst aufzubauen, die das Werden, Zweifeln und Scheitern einer Nation repräsentiert.

Lange Zeit wurden aus dem Kernbestand nur die Ikonen preußischer Kunst des 19. Jahrhunderts gezeigt. Natürlich die Gemälde Karl Friedrich Schinkels, etwa die „Gotische Kirche auf einem Felsen am Meer“ von 1815. Die romantisierende wie idealisierende Fantasielandschaft war das erste Bild, das der junge Wagener kaufte. Weitere Gemälde von und nach Schinkel folgten. Bei Caspar David Friedrich gab Wagener 1822 ein Tag- und ein Nachtstück in Auftrag. Friedrich lieferte den „Einsamen Baum“ und „Mondaufgang am Meer“, zwei Meisterwerke der deutschen Romantik. An der Identitätsstiftung eines deutschen Kulturideals im frühen 19. Jahrhundert war Wagener als Mäzen und Auftraggeber maßgeblich beteiligt.

Aber auch die Restauration des Biedermeiers spiegelt sich in seinen Käufen. Er verfolgte einerseits das Wirken Schadows in Düsseldorf und unterstützte die aufstrebende Düsseldorfer Malerschule. Andererseits ignorierte er die in Süddeutschland vorherrschende idealisierte Akademiemalerei und investierte in die aus heutiger Sicht provinziell wirkenden Münchner Kleinmeister mit heiteren Landszenen.

Wagener war weder politischer Aktivist noch stilistischer Avantgardist, partizipierte aber offen an den nationalen Strömungen eines sich rapide verändernden Europa. Er interessierte sich für die künstlerische Verarbeitung der Volksaufstände in Polen und Griechenland, er propagierte mit dem Kauf von Theodor Hildebrandts Werk „Der Räuber“ von 1829 die Verherrlichung des Gesetzlosen als volkstümliche Variante des Traums vom edlen Wilden; er beobachtete die Aufbruchsstimmung nach der Gründung eines unabhängigen Belgien.

Wagener sammelte breit: Landschaften, Stillleben, Genreszenen, Seestücke, nur die Nazarener mochte er nicht, vielleicht auch um sich von seinem Konkurrenten im Berliner Mäzenatentum, Athanasius Raczynski, abzusetzen, der eher klassisch akademisch sammelte.

Vorurteilsfrei wollen Kittelmann und die Kuratorinnen Angelika Wesenberg und Birgit Verwiebe die Sammlung Wagener zeigen. Und doch bleiben 60 Gemälde im Depot. Manches erschien ihnen doch nicht vorzeigbar. Hier vergibt die Nationalgalerie die Chance, die Sammlung in ihrer wirklichen Breite zu zeigen.

Vor schlechtem Geschmack und sich verändernden Einschätzungen sind weder Kunsthistoriker noch Ausstellungsbesucher gefeit. Aber die Transformation von wissenschaftlicher Urteilskraft über die Jahrhunderte aufzuarbeiten hätte der Ausstellung eine zusätzliche Qualität verliehen. Auch hier war die Londoner National Gallery einen Schritt voraus. Mit der letztjährigen Ausstellung „Close Examination: Fakes, Mistakes and Discoveries“ über wissenschaftliche wie technische Fehleinschätzungen bewies sie einen selbstbewussten Umgang mit der eigenen Sammlungsgeschichte.

■ Bis 8. Januar 2012, Alte Nationalgalerie, Berlin, Katalog (Seemann Henschel Verlag Leipzig) 29 Euro