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Archiv-Artikel

Ein Pfui dem blauen Himmel!

Die Wahrheit stellt klar: Er ist die Pestbeule des Wetters, ein Geschwür am Firmament

Er ist das Ideal des Spießers, der Traum des Verwaltungsangestellten

Er ist ein Ärgernis für das Auge und eine Beleidigung für den freien Bürger: der blaue Himmel. Er ist eine Plage für den selbstbewussten Menschen, eine Heimsuchung für jedes kultivierte Individuum und eine Marter für alle, die an den Fortschritt glauben. Während ein bewölkter Himmel durch sein wechselndes Formenspiel den Menschen zum Nachdenken anstiftet und ihm zugleich alle Möglichkeiten offenlässt, sodass er in Ruhe sein Tagwerk vollbringen und der Veredelung des Menschengeschlechts sein Dasein widmen kann, zwingt der blaue Himmel dem Homo sapiens furchtbar und unerbittlich seinen Willen auf. Der blaue Himmel, das hat die moderne Forschung zweifelsfrei bewiesen, lullt ein, schwächt den Verstand und zermürbt den Charakter: Unter seiner Herrschaft degeneriert der Mensch zum vernunftlosen Körper, wird zur Hülle aus einfältigem Fleisch und sinkt unter das Tier. Der blaue Himmel ist der Feind der Kultur.

Der blaue Himmel heilt keine Krankheiten und verhütet keine Kriege; doch die Masse verehrt ihn, rutscht vor ihm auf den Knien und leckt seinen Speichel. Der blaue Himmel baut keine Schulen und macht keine Erfindungen, die die Menschheit voranbringen; gleichwohl genießt er überall Hochachtung und nimmt einen Ehrenplatz ein. Unübersehbar ist die Menge seiner Anhänger, unüberschaubar die Zahl seiner Parteigänger, unendlich groß die Herde seiner Jünger und die Horde seiner Apologeten. Unermesslich ist seine Gefolgschaft, und in die Milliarden geht der Haufe der Mitläufer und Jasager, die im blauen Himmel ihren Abgott und Führer sehen und ihm bereitwillig nach dem Schnabel reden. Wie immer will es hinterher wieder keiner gewesen sein.

Der wahre Mensch weiß, dass der blaue Himmel die Pestbeule des Wetters ist, ein Geschwür am Firmament. Mit Abscheu und Widerwillen betrachtet er den blauen Himmel, der das größtmögliche Unglück ist; mit Verdruss erfüllt ihn seine unsägliche Bläue, Ekel befällt ihn angesichts seiner unerträglichen Ausdehnung von Horizont zu Horizont, Empörung überkommt ihn in Anbetracht seines rücksichtslosen Vorhandenseins.

Fest steht: Der blaue Himmel ist das Symbol der Dummheit. „Der blaue Himmel ist ein Gimpel“, schrieb bekanntlich schon Goethe irgendwann irgendwo. Der vernunftbegabte Mensch liebt seine Stube, der blaue Himmel aber kräht: Komm ins Freie! Dort, unter der Tyrannis des blauen Himmels, werfen die Leute schreiend ihre Bekleidung fort und zeigen nackend ihre schlimmen Beine, bösen Füße und schlechten Oberarme vor; schrecklich ist das Fleisch, das unter dem blauen Himmel wuchert. „Die Leute gehen hinaus in den blauen Himmel und kehren als Vernichtete zurück“, notierte bekanntermaßen bereits Thomas Bernhard.

Die Inferiorität ehrt den blauen Himmel, die Subalternität huldigt ihm, die Mediokrität betet ihn an. Der blaue Himmel: Er ist die Leitkultur der Unterschicht. Sie will sein wie er, und gern würde sie eine Arschbombe mitten in den blauen Himmel hinein machen. Was sie jedoch nicht ahnt: Der blaue Himmel ist ein Schaumann, ein aufgeblasener Großkotz, ein aufgedonnertes Arschgesicht. Der blaue Himmel ist blau, sonst nichts. Er ist nichts, und er kann nichts. Der blaue Himmel ist die Verkörperung der Leere; übersichtlich, ordentlich und gepflegt, ist er das Ideal des Spießers, der Traum des Verwaltungsangestellten. Anders gesagt: Der blaue Himmel ist der Untergang.

Wer einfach oder gar nicht denkt, liebt den blauen Himmel. Die Wahrheit aber ist: Wer den blauen Himmel liebt, stinkt. Wer sich dem blauen Himmel weiht, hat sich aufgegeben. Der richtige Mensch schätzt den bewölkten Himmel, ehrt den Regen und bewundert den Sturm, besingt das schlechte Wetter und lobpreist den grauen Himmel, niemals den blauen. Wer ein Mensch im menschlichen Sinn des Wortes ist, rühmt den unruhigen, veränderlichen Himmel des Nordens, der wandelbar ist wie der Mensch; er frohlockt ob seines vielfach gegliederten, krausen Gewölks, das dem Großhirn gleicht, und er verachtet das dümmliche Azurblau des geistlosen südlichen Himmels.

Der denkende Mensch vergöttert den Regen und verhätschelt seinen weißen Bruder, den Schnee; Heiterkeit empfindet er ob eines unbeständigen Wetters, das den Geist reizt. Kein Regentropfen gleicht dem andern, doch der blaue Himmel ist überall gleich; jedes Schneekristall ist ein Individuum, doch der blaue Himmel kennt keine Unterschiede. Ja, wenn der blaue Himmel manchmal grün wäre, bunt gestreift oder gepunktet! Aber der blaue Himmel ist immer so langweilig wie sonst nur der blaue Himmel. Es ist an der Zeit, jeden Verkehr mit ihm abzubrechen.

Der blaue Himmel ist der Feind der Vernunft, der erbitterte Gegenspieler der Zivilisation, der überaus fanatische Zerstörer alles höheren Strebens. Er ist außen hui, doch dahinter lauert unerbittlich das Verderben. Der blaue Himmel ist der Faschist des Wetters.

Und seine enge Verwandte, „die Krone des Wetters, das Schwein, die Sonne“ (G. Benn)? Darüber das nächste Mal.

PETER KÖHLER