: Melden, melden, melden
Schüler hangeln sich durch den Unterrichtsalltag wie abgeklärte Malocher: Ökonomisch den Job machen. Melden, wo es sich lohnt. Pädagogen sollten diesen pragmatischen Schülerblick im Auge haben, wenn sie Unterricht verbessern wollen
von GEORG BREIDENSTEIN
Stefan beachtet die Lehrerin kaum. Seine Blicke irren durch das Klassenzimmer. Träumt er? Hört er zu? Immer wieder schaut er zu Eric. Wenn andere Kinder Antworten geben, lächeln die Freunde. Wissend. Überheblich. Bei der Einschätzung dessen, was in der Klasse passiert, scheinen sie einer Meinung zu sein.
Stefan und Eric, zwei Schüler von hunderttausenden in der Republik. Was tun diese Schüler im Unterricht und wie tun sie es? Dieser Frage widmete sich von 2001 bis 2004 ein Forschungsprojekt der Universität Halle. Denn bisher beschäftigen sich ganze Forschungsprogramme mit der immer genaueren Vermessung der Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler, dem so genannten „Output“ schulischen Unterrichts (wobei allerdings oft unklar ist, inwieweit die gemessenen Leistungen dem Unterricht zuzurechnen sind). Erstaunlich wenig wissen wir dagegen über die konkrete Situation von Schülern im Unterricht: Was verlangt der Unterrichtsalltag von Kindern und Jugendlichen und wie gehen sie mit diesen Anforderungen um? Was bedeutet es, über viele Jahre hinweg Tag für Tag am Unterricht „teilzunehmen“, wie es so schön doppeldeutig heißt?
Um diesen Fragen nachzugehen, habe ich mit meinen Kollegen Hedda Bennewitz und Michael Meier den Alltag zweier Schulklassen vom siebten bis in das neunte Schuljahr beobachtet: Eine Klasse an einem Gymnasium und eine an einer Gesamtschule. Wir haben aufgezeichnet, was die Schülerinnen und Schüler miteinander reden, so genau wie möglich beschrieben, was sie tun und uns von ihnen erklären lassen, wie sie mit den Anforderungen des Unterrichts umgehen.
In der Beobachtung des Schüleralltages wird einiges sichtbar, was mir grundlegend für das Nachdenken über schulischen Unterricht zu sein scheint. Zunächst die Doppelstruktur der Unterrichtssituation: Schüler orientieren sich immer an zwei Anforderungen zugleich: zum einen an der des „Unterrichts“, der durch die Lehrperson repräsentiert wird und beispielsweise darin besteht, Fragen zu beantworten, etwas von der Tafel abzuschreiben, Arbeitsblätter auszufüllen. Zum anderen müssen Schülerinnen und Schüler den Erwartungen und Normen der Kultur in der Gleichaltrigengruppe entsprechen, der so genannten „Peer-Kultur“. Um anerkannt zu sein oder zumindest keine Schwierigkeiten zu bekommen, müssen sie darauf achten, dass ihr Verhalten den Orientierungen der Schülerkultur entspricht. Sie sollten zum Beispiel zum Unterhaltungswert der Situation beitragen und eine gewisse Distanziertheit zum eigenen Tun zeigen.
Jede Schülerantwort im Unterricht hat also ein doppeltes Publikum, oft auch einen doppelten Adressaten: den Lehrer und die Mitschüler. Die Anforderungen beider Seiten können in Konflikt miteinander geraten. Zum Beispiel wenn sehr gute Zensuren vor den Mitschülern legitimiert werden müssen, um nicht als „Streber“ zu gelten. Die beiden Anforderungsstrukturen können aber auch relativ friedlich koexistieren: Viele Schülerpraktiken zielen darauf, gleichzeitig am Unterricht teilzunehmen und die Peerkommunikation zu pflegen. Vor allem in der Gymnasialklasse hatten die Schülerinnen eine erstaunliche Meisterschaft darin ausgebildet, dem Unterricht so weit erforderlich zu folgen und sich dabei intensiv mit der Freundin zu unterhalten – zum Beispiel mit Hilfe ausgefeilter Techniken des verdeckten Briefchenschreibens.
Bei den meisten Schülern war ein äußerst pragmatischer, effizienter Umgang mit den Unterrichtsanforderungen zu beobachten. Im siebten und achten Schuljahr sind Schüler zu „Profis“ geworden, die mit großem Können und Geschick „ihren Job“ ausüben. Sie haben zwar eine gewisse Distanz zur Schule, doch bestimmend sind unhinterfragte Routinen: Man tut (nur) seinen Job, aber man tut seinen Job. Die Routinen und Strategien des Schülerjobs richten sich auf die bekannten Formate und Muster des Unterrichts. Etwa im berüchtigten „fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch“: Der Schüler versucht herauszubekommen, was der Lehrer hören will, indem er beispielsweise die Antwort des Vorgängers etwas variiert. Gängige Alternative: Der Schüler bietet probeweise einen Begriff an, um an der Lehrerreaktion zu ermessen, ob dieser Begriff aussichtsreich ist oder man einen anderen probieren muss.
Schülerstrategien richten sich auch auf reformpädagogische Unterrichtsformen. In der„Wochenplanarbeit“ zum Beispiel sollen Schüler selbstständig und selbstbestimmt eine Reihe von Aufgaben bearbeiten. Wir haben beobachtet, dass die Schüler dabei vor allem ein Ziel im Auge haben: ihre Tätigkeit möglichst effizient zu organisieren, um mit möglichst geringem Aufwand die Vorgaben des Planes „abhaken“ zu können.
In besonderer Weise scheinen Zensuren den „ökonomischen“ Umgang mit schulischen Anforderungen nahezulegen. Ein Schüler erläuterte uns seine Strategie: Entscheidend sei, dass man rechtzeitig verfolge, in welchen Fächern man „auf der Kippe“ stehe, das heißt in welchen Fächern der aktuelle Durchschnitt der Einzelnoten zwischen zwei Noten liegt. Hier gilt es gezielt zu investieren. Denn hier kann man mit vergleichsweise geringem Aufwand größere Effekte erzielen – die Entscheidung für die bessere Note. Worin die Investition besteht, erläuterte der Schüler auch: „Immer melden, nur melden.“ Das Prinzip ist einfach: Man muss die Antwort nicht unbedingt wissen, denn man kommt insgesamt so selten dran, dass das Risiko, aufgerufen zu werden, ohne die Antwort zu wissen, nicht sehr hoch ist. Zudem fällt eine falsche Antwort nicht besonders ins Gewicht: „Ob man Scheiße antwortet is ejal.“ Entscheidend ist, dass das Melden registriert und als Zeichen von Engagement gewertet wird.
Was folgt aus diesen Beobachtungen für das pädagogische Nachdenken über Schulunterricht? Wer an die Schule als Bildungseinrichtung denkt, mag erschrecken über jenes von Abgeklärtheit und Routine gekennzeichnete Bild vom „Schülerjob“, das sich in unseren Beobachtungen widerspiegelt. Mir geht es um etwas anderes: Ich möchte diesen pragmatischen Umgang mit den Unterrichtsanforderungen rehabilitieren. Jahrelang gehen Schülerinnen und Schüler mindestens sechs Stunden täglich ihrem „Job“ nach. Es ist unrealistisch, dass sie sich Stunde für Stunde für die Unterrichtsinhalte interessieren. Unrealistisch dürfte auch sein, dass sie sich vollständig identifizieren mit dem, was sie Tag für Tag tun.
Insofern ist es vermutlich eine Illusion, Schulunterricht allein aus der Perspektive der Motivation und des Interesses zu denken. Einerseits sollten wir Schülerinnen und Schülern einen gewissen Pragmatismus in ihrem täglichen Tun zugestehen. Dann können wir genauer überlegen, an welchen Stellen des Unterrichts tatsächlich mehr Engagement wünschenswert wäre. Andererseits fordern unsere Beobachtungen durchaus dazu auf, Strukturen in Frage zu stellen, die in erster Linie ein distanziert-pragmatisches Verhältnis zum Unterricht hervorbringen. Dazu gehört vor allem die Zersplitterung des Stundenplans in 45-Minuten-Einheiten und die Umrechnung aller Leistungen in Zensuren.
Für die methodisch-didaktische Gestaltung des Unterrichts lassen sich aus unseren Beobachtungen keine einfachen Rezepte ableiten. Die wichtigste Konsequenz liegt in einem Perspektivwechsel: Wir müssen den Unterricht aus der Perspektive der Schüler, aus ihrer Situation betrachten. Unsere Analyse darf nicht bei den (immer guten) Absichten stehen bleiben, sondern muss das alltägliche Geschehen im Klassenzimmer thematisieren. Auch alle Versuche, den Schulunterricht zu reformieren, müssen sich von der Praxis der Schülerinnen und Schüler aus befragen lassen.
Wie können, sollen Lehrer lehren? In unregelmäßiger Folge diskutieren Pädagogen in der taz die neue Praxis des Lernens. Bisher: Frank Nonnenmacher über den „Lehrer, Sisyphos der Schule“ (3. 1. 2007), Michael Felten über „aufgeklärten Frontalunterricht“ (15. 2. 2007)