Zehn Jahre im Nebel

„Nebenwirkungen der Medikamente sind als Krankheitssymptome gedeutet worden“

AUS SIEGEN MIRIAM BUNJES

Tanja Afflerbachs Lippen sind schmale Striche, als sie mit schnellen Schritten den Gerichtssaal durchquert. Es ist ihr großer Tag, der Beginn eines Prozesses, der viele Jahre dauern kann und den sie nicht für sich, sondern für viele andere Menschen in vielen anderen deutschen Psychiatrien durchstehen will. Saal 029, holzvertäfelt mit grauem Plastikboden, ist deshalb so voll wie nur selten bei Zivilprozessen. Vom Stuhl der Klägerbank lächelt Tanja Afflerbach vorsichtig zu den Besuchern, dann presst sie den Mund wieder zusammen.

Die Augen hinter der runden Sonnenbrille suchen die Gegenseite. Die psychiatrische Klinik Siegen hat nur ihren Anwalt geschickt, ein grauhaariger Mann in Talar, der professionell entspannt in einer Akte blättert. Das kindlich runde Gesicht der 38-Jährigen wird trotzdem hart.

Zehn Jahre hat Tanja Afflerbach mit einer falschen Diagnose in Psychiatrien verbracht, vor allem in der von ihr beklagten. Die Folgen quälen sie noch heute: Auch in geschlossenen Räumen trägt sie eine Sonnenbrille und eine eng anliegende Kappe. Noch sechs Jahre nach ihrer Entlassung simulieren ihre Nerven Todesangst: Ihre Haare stehen zu Berge, die Gesichtshaut wird nach oben gezogen, permanent. Nur im Dunkeln wird es besser. In ihrem Bauch steckt deshalb eine Pumpe, die ununterbrochen Morphium in ihren Körper pumpt.

Eines steht schon vor Beginn des ersten mündlichen Verhandlungstages fest. Richter Cornelius Vowinckel beugt sich vor, um es direkt ins Gesicht des Beklagten-Anwalts zu sagen: „Eine Psychose hat Frau Afflerbach nie gehabt.“ Schließlich habe sie nach Beendigung der Behandlung nie mehr psychische Probleme gehabt. Es gehe jetzt darum, den Anteil der Schuld zu klären. Tanja war gerade Anfang 20, als sie das erste Mal in die Siegener Psychiatrie kam. Als sie sie verließ, war sie fast dreißig, hatte ihr Kunststudium kurz vor dem ersten Staatsexamen abgebrochen und ist wegen ihrer Schmerzen berufsunfähig, möglicherweise für immer. Für ihre ruinierte berufliche Zukunft will sie Ersatz, eine Rente, die ihr den entgangenen Verdienst ersetzt. Und Schmerzensgeld dafür, dass ihre Nerven sie täglich an „die zehn Jahre im Nebel“, wie sie sie nennt, erinnern.

Und weil der vorgeladene Sachverständige im Stau steht, versucht Cornelius Vowinckel die Klagesumme zu schätzen. „Vielleicht schaffen Sie ja einen Vergleich.“ Mindestens 60.000 Euro Schmerzensgeld, schätzt der Richter mit dem langen dunklen Pferdeschwanz. „Und wäre Frau Afflerbach Studienrätin, hätte sie bis heute einen Verdienst von 400.000 Euro gehabt.“ Allerdings, schränkt er ein, sei sie nicht nur im Siegener Klinikum behandelt worden, dieses müsse daher nicht die hundertprozentige Haftung übernehmen. 25 Prozent bietet darauf Klinik-Anwalt Ulrich Grotepass an. Tanja Afflerbach schiebt ihrer Anwältin einen Zettel zu. „Unter 50 Prozent geht gar nichts“, sagt die.

Ihre Mandantin schaut auf den Tisch, schüttelt leicht den Kopf und verschränkt dann die Arme. „Das ist immer noch zu wenig“, sagt ihr Gesicht. Der Sachverständige tritt in den Verhandlungsraum. Professor Wolfgang Meier leitet die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Bonn. Sein knochiges Gesicht ist ausdruckslos, seine Stimme so leise, dass sich die Besucher auf den Besucherstühlen und auf dem Fußboden vorbeugen.

Er soll zwei zentrale Fragen klären: Hätte das Klinikum Siegen erkennen müssen, dass die Diagnose falsch ist? Und: Ist eine falsche Medikamentenumstellung die Ursache für Tanja Afflerbachs Schmerzen? Fragen, die am Ende der Richter beantworten muss. Wie bei allen Prozessen um ärztliche Kunstfehler ist jedoch auch hier der medizinische Gutachter zentral. Deshalb hat Tanja Afflerbach auch ein eigenes Gutachten in Auftrag gegeben und ihren Gutachter, den Baseler Psychiater Piet Westdijk, zum Prozess mitgebracht.

„Ich habe zu beiden Fragenkomplexen eine klare Meinung“, murmelt der Bonner Gutachter, dessen Meinung als vom Gericht bestellter neutraler Sachverständiger deutlich mehr wiegt. „Die Diagnose hätte im Laufe der zehn Behandlungsjahre unbedingt in Frage gestellt werden müssen“, sagt Klaus Meier. „Das ist bei allen psychiatrischen Diagnosen das normale Vorgehen.“

Die Diagnose „juvenile Schizophrenie“ hieß zunächst „beginnende Psychose“. Sie hat Tanjas Leben, als es gerade richtig begann, von Grund auf verändert. 1991 war das. Tanja ist 21 Jahre alt und gerade aus dem Elternhaus in Hilchenbach-Lützel in die erste eigene Studentenbude in Siegen gezogen. Dann nimmt ihr ein Auto an einer Straßenkreuzung in Allenbach bei Siegen die Vorfahrt. Ihr Freund kommt mit einer Schulterverletzung ins Krankenhaus. Sie fühlt sich unverletzt und trampt zu einer Theaterprobe bei Freunden.

Nachts im Bett rasen jedoch immer wieder die Lichter des anderen Wagens auf sie zu. Zitternd und rappelig geht sie zu ihrem Hausarzt. Der diagnostiziert ein Schleudertrauma und schickt sie zu einer Nervenärztin. Die deutet Tanjas Unruhe als beginnende Psychose und verschreibt ein Depotneuroleptikum, das über Wochen Psychopharmaka in ihren Körper ausschüttet. Sie fühlt sich von Anfang an schlecht mit dem Medikament, bekommt Krämpfe, fühlt sich fremd in ihrem Körper. Sie sucht Hilfe in der Psychiatrie. „Die Diagnose wurde dann einfach übernommen“, fasst Gutachter Meier die Krankenakten Afflerbach zusammen. „Heute ist eindeutig, dass sie falsch war.“

Hätte man das während der Behandlungszeit feststellen können und müssen? Diese Frage stellt der junge Richter immer wieder. Dem Sachverständigen gefällt sie nicht. „Ein ärztlicher Kunstfehler ist das nicht unbedingt“, betont er mehrmals. Letztendlich bejaht er sie, nach vielen Korrekturen im Protokoll, doch. Es habe eigentlich nie Symptome von Schizophrenie gegeben. „Wobei die ja auch durch die Medikamente, die ihr gegeben wurden, verschwunden wären.“

Tanja Afflerbachs Gutachter ist überzeugt, dass Tanja durch den Autounfall eine posttraumatische Belastungsstörung erlitt. „Das wäre auch meine Verdachtsdiagnose gewesen“, sagt dazu der Bonner Gutachter. „Aus den Krankenakten kann ich das aber nicht diagnostizieren.“ Er vermutet: „Nebenwirkungen der Medikamente sind als Krankheitssymptome gedeutet worden.“

Und Medikamente bekam Tanja viele – durchschnittlich 700 Milligramm eines Neuroleptikums namens Leponex. „300 Milligramm gibt man normalerweise bei stark psychotischen Patienten“, sagt Gutachter Meier. Das Leponex wurde mit anderen Psychopharmaka, Schlaf- und Beruhigungsmitteln kombiniert. „Ungewöhnlich“, nennt der Gutachter den Medikamentenmix. „Er deutet darauf hin, dass die Mediziner mit dem Ergebnis nicht zufrieden waren.“

Versuche, die für Psychosen entwickelten Medikamente abzusetzen oder niedriger zu dosieren, gab es für Tanja Afflerbach zehn Jahre lang nicht. „Nur so hätte man feststellen können, ob die Patientin wirklich eine Psychose hat.“

Nach zehn Jahren mit Leponex soll Tanja innerhalb von Wochen auf ein anderes Medikament umgestellt werden. Dabei beginnen die bis heute andauernden Schmerzen. Mit Hilfe einer ambulanten Nervenärztin setzt sie langsam alle Medikamente ab. Psychische Probleme hat sie seitdem keine mehr, aber furchtbare Schmerzen. Dass die Schmerzen direkt von der Umstellung kommen, glaubt der Gutachter nicht. „Das steht nicht in der Literatur.“ Eine so schnelle Umstellung „hätte ich selber nie gemacht und auch jeden meiner Assistenzärzte davon abgehalten.“

Katharina Batz, Tanjas Anwältin, hält den Prozessauftakt trotzdem für einen Erfolg. „Dass die Diagnose anders hätte sein müssen, hat der Gutachter deutlich gesagt“, sagt sie. „Das wäre ein grober Behandlungsfehler. Wenn der Richter zu dieser Entscheidung kommt, kehrt sich die Beweislast um.“ Dann muss nicht mehr Tanja Afflerbach beweisen, dass ihre Schmerzen von der Klinik verursacht wurden, sondern die Klinik, dass sie diese nicht verursachten. „Dann haben wir gewonnen“, sagt Batz. „Und dann ist es realistisch, dass das hier in drei Monaten vorbei ist.“ Der Prozess wird am 20. Juni fortgesetzt.