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Archiv-Artikel

Nachdenken über Küchenaggressionen

RETROSPEKTIVE Mit der Filmreihe „Alle Tage wieder – Let them swing!“ ehrt das Arsenal-Kino Margaret Raspé, eine Regisseurin und Künstlerin, die sich mit einem Kamerahelm gegen die Ödnis der Hausarbeit wappnet

Raspés Arbeit nimmt die „Lifecasting“-Bewegung unserer Tage vorweg

VON TILMAN BAUMGÄRTEL

Bei einer Filmreihe im Arsenal sind die selten gezeigten Filme der Berliner Malerin und Performance-Künstlerin Margaret Raspé zu entdecken, die sie ab Anfang der 70er Jahre mit dem von ihr erfundenen Kamerahelm gedreht hat. Das war eine Art Vorläufermodell von Google Glass: eine Super-8-Kamera zum Aufziehen, die mit zwei Schienen an einem Bauarbeiterhelm befestigt war und mit einem Fernauslöser gestartet werden konnte.

Ein halbes Jahrzehnt vor der Markteinführung der Steadycam stabilisierte Raspé die Kamera mit zwei um die Hüften gelegten Bändern. So wurde sie zu einem Kamera-Cyborg mit Objektiv vor dem rechten Auge und drehte Filme aus einer Perspektive, die die der Sehmaschine mit ihrem Blick zusammenbrachte: Ganz im Sinne der Frauenbewegung jener Zeit rückte sie die Hausarbeit in den Mittelpunkt ihrer Kurzfilme. Da wird Fleisch paniert („Schweineschnitzel“), ein Huhn ausgenommen („Oh Tod, wie nahrhaft bist du“) und Sahne geschlagen („Der Sadist schlägt das eindeutig Unschuldige“). Es gibt einen Film über die Produktion eines Hefezopfs („Backe, backe Kuchen“) und einen über das Abwaschen, der der Filmreihe ihren Titel gegeben hat: „Alle Tage wieder – Let them swing!“

Diese Filme sind nicht nur Zeugnis der lange untergegangen Essens- und Kochkultur der deutschen Nachkriegszeit (welcher Koch von heute wüsste noch, wie man ein Huhn rupft und dass man die übrig gebliebenen Flaumfedern mit einer Flamme absengt?). Sie reproduzieren durch die distanzlosen Aufnahmen auch den beschränkten Tunnelblick einer deutschen Hausfrau der 70er Jahre: das leidenschaftslos registrierende Kameraauge in der Nahkonfrontation mit der physischen Realität von Pfannen, Mixern und Lebensmitteln. Der Betrachter sollte durch die unbearbeitete und kommentarlose Konfrontation mit der Küchenarbeit auch deren Ödnis ertragen müssen.

„ ‚Schweineschnitzel‘ entstand“, sagt Raspé, „nachdem ich lange über Aggression in der Küche nachgedacht hatte.“ Raspé selbst war freilich höchstens zeitweise Hausfrau: Zuletzt filmte sie den Pinsel in ihrer Hand, mit dem sie eine ungegenständliche Farbkomposition malte.

Die Künstlerin wurde 1933 in Breslau geboren und lebt heute in Berlin, wo sie auch in den 50er Jahren an der HdK Malerei studiert hatte. Von 1958 bis 1970 arbeitete sie als Modedesignerin, ab 1970 wandte sie sich der Kunst zu. Das Oeuvre, das danach entstand, ist beeinflusst vom Wiener Aktionismus und von der Performance und Fluxuskunst der 1960er Jahre. Die Filme gehören zu einem umfangreichen Werk, das vor allem aus Malerei, Installationen und Performances besteht. Sie wurden unter anderem in Jonas Mekas’ Anthology Film Archive in New York gezeigt und von dem Londoner Verleih Lux vertrieben.

In Berlin werden die Kamerahelmfilme in einem Programm gezeigt, das die Kuratorinnen Madeleine Bernstorff, Karola Gramann und Heide Schlüpmann zusammengestellt haben. Neben ihnen laufen auch andere Arbeiten Raspés, etwa ein kleiner Film über den 1. Mai in Kreuzberg anno 1971 und ein Dokumentarfilm über Feuerläufer in Nordgriechenland. Um das Werk von Raspé historisch zu kontextualisieren, werden andere Filme gezeigt, die Berührungspunkte mit ihrer filmischen Spielart feministischer Body Art haben, zum Beispiel „Often During the Day“ von Joanna Davis (1979) oder „Fragment“ von Laura Padgett (1987).

Die unvermittelte Dokumentation banaler Alltagshandlungen in Raspés Filmen nimmt die „Lifecasting“-Bewegung unserer Tage voraus. Beginnend mit der Studentin Jennifer Ringley, die nonstop und im Minutenrhythmus Webcam-Aufnahmen aus ihrem Wohn- und Arbeitszimmer auf ihrer Website veröffentlichte, entstand Ende der 90er Jahre die Mode, sein Leben ununterbrochen in Bildern im Netz zu dokumentieren – ein Trend übrigens, der interessanterweise von Frauen angeführt wurde. Obwohl wenig Aufregendes vor der Kamera passierte, brachte es Jennicam.org Ende der 90er Jahre auf über eine Million Besucher pro Tag.

Ringleys Webcam-Bilder tauchten zu einem Zeitpunkt auf, als die Privatsphäre und ihre systematische mediale Verletzung zu einem der dominanten Themen der Populärkultur wurden – die holländische Überwachungsshow „Big Brother“ erfreute sich gerade weltweiter Beliebtheit. Während Raspés Filme noch ein eher vages Unbehagen daran triggerten, durch die Augen eines anderen zu sehen, waren die Lifecaster kaum noch darum bemüht, die Abgrenzung zwischen sich und ihren Beobachtern aufrechtzuerhalten.

Als der US-amerikanische Internet-Unternehmer Justin Kan 2007 begann, sein Leben ununterbrochen aus seiner subjektiven Perspektive zu dokumentieren, musste er sich dafür – anders als Raspé – keine klobige Kamera mehr auf einen schweren Helm montieren. Kan stellte das Experiment nach acht Monaten wieder ein und baute die Website justin.tv zu einer Plattform aus, über die jedermann sein Leben als Echtzeitvideo streamen konnte. Besonders erfolgreich wurden Videostreams, bei denen man Leuten – ähnlich wie in Raspés Filmen – beim Schaffen zusehen kann: beim Zocken von Computerspielen, die die Gamer ja oft genau die subjektive Perspektive einnehmen lassen, mit der Raspé Sahneschlagen und Schnitzelpanieren zeigt.

Eins der erfolgreichsten Videospielgenres hat genau dieser medialen Darstellungstechnik – einer digital animierten Version der Renaissance-Perspektive – seinen Namen zu verdanken: Ego-Shooter, ein Name, der auch Raspés kinematografische Innovation der Helmkamera bezeichnen könnte. (Die Game-Videos auf justin.tv wurden so populär, dass für sie die Website twitch.tv gegründet wurde, die Amazon vor Kurzem für eine knappe Milliarde Dollar gekauft hat.)

Margaret Raspé hat in ihren Kurzfilmen einen guten Sinn für die Themen gezeigt, die sich aus der Möglichkeit medial gerüsteter Selbstbeobachtung ergeben: Voyeurismus und Zwangshandlungen, Alltagsödnis und ein leidenschaftlos-desinteressierter Blick auf das Intimste. Um diese Position dauerhaft zugänglich zu machen, werden im Zusammenhang mit der Filmreihe alle Filme digitalisiert, die bis vor Kurzem im Zehlendorfer Haus der Künstlerin aufbewahrt waren.

■ „Alle Tage wieder – Let them swing!“: vom 18. bis zum 20. September im Arsenal