: Asiatischer Zweizylindermotor
INDIEN–CHINA Die beiden Großmächte vereinbaren mehr wirtschaftliche Kooperation, doch Spannungen an der Grenze deuten auf politische Probleme
AUS DELHI MICHAEL RADUNSKI
Ernst starren die indischen Soldaten geradeaus. Keiner verzieht eine Miene, nichts lenkt sie ab, das Gewehr ist immer griffbereit. Doch diese Soldaten werden nicht kämpfen. Es ist die Ehrengarde, pompöse Staffage für den Besuch aus Peking: Xi Jinping weilt derzeit für drei Tage zum Staatsbesuch in Indien.
Mitgebracht hat er vor allem Geld: Zwölf Abkommen haben Xi und Indiens Premier Narendra Modi am Donnerstag in Delhi unterzeichnet. In den nächsten fünf Jahren will China umgerechnet 15,5 Milliarden Euro in Indien investieren. Zwei Industrieparks sind geplant, zudem soll mit Chinas Hilfe Indiens Schienennetz ausgebaut werden.
Schon jetzt ist China einer der größten Handelspartner Indiens. Der bilaterale Handel beträgt 70 Milliarden Dollar. Doch ist er ziemlich einseitig. Indiens Handelsdefizit gegenüber China beläuft sich auf mehr als 40 Milliarden Dollar. Das soll sich nun ändern. „China und Indien sollten wie ein Zweizylindermotor zusammenarbeiten, um Wachstum und Wohlstand zu erreichen“, sagte Xi in Delhi.
Doch die wirtschaftlichen Partner sind politische und militärische Rivalen. So war Indiens Ehrengarde nicht das einzige Militär, das an diesem Tag in den Blick der Öffentlichkeit geriet: Noch während Xi in Delhi die Parade ablief, drangen chinesische Soldaten bei Ladakh fünf Kilometer auf indisches Territorium vor. Zwar war die Situation schnell unter Kontrolle. Doch gibt es an der 4.000-Kilometer-Grenze zwischen beiden Großmächten immer wieder Zwischenfälle. Allein in diesem Jahr verletzte China die Grenze indischen Angaben zufolge mehr als 330 Mal. „Die Lage ist sehr kritisch“, meint die China-Expertin der renommierten Observer Research Foundation in Delhi, Rajeswari Rajagopalan. „Indien muss dringend seine Sicherheitsstruktur verbessern und den Chinesen entschlossen gegenübertreten. Sicherheit muss vor den wirtschaftlichen Chancen an erster Stelle stehen.“
Es ist nicht der einzige Konfliktpunkt. In den vergangenen Wochen ist zwischen den beiden Ländern ein wahrer Wettlauf um Verbündete in der Region entbrannt. China verfolgt eine „Strategie der Perlenkette“. Wie Glieder einer Kette sucht sich Peking Partner, um gezielt seinen Einfluss auszudehnen: Mit Indiens Erzrivalen Pakistan baut man einen Tiefseehafen, auf den Malediven und in Sri Lanka versprach Xi zu Wochenbeginn, Häfen, Brücken und Flughäfen zu errichten. Peking wirbt zudem für eine neue „maritime Seidenstraße“ im Indischen Ozean – unter Chinas Führung. Aber auch Indien bemüht sich um Verbündete: In den vier Monaten seit Amtsantritt reiste Modi nach Bhutan, Nepal und zu Chinas Erzrivalen Japan, wo ihn Ministerpräsident Shinzo Abe besonders herzlich empfing. So ging es am Donnerstag in Delhi vor allem darum, neues Vertrauen zu schaffen. Nur mit Vertrauen und Frieden könne man das gesamte Potential der beiden Länder ausschöpfen, sagte Modi zu Xi. „Wenn sich unsere beiden Länder einig sind, wird die ganze Welt zuhören.“
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