: Kretschmanns Eiskübel
FREIHEIT Spendenfinanziert, werbefrei, lange Texte: Wie das politische Magazin „Kontext“ den Traum von der Gegenzeitung realisiert
Als die Ice-Bucket-Challenge auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann ereilte, nominierte er folgende drei Menschen, Geld zu spenden oder sich Eiswasser über den Kopf zu schütten: seinen Vize-Ministerpräsidenten Nils Schmid (SPD), den Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) und Johanna Henkel-Waidhofer, die politische Korrespondentin des baden-württembergischen Wochenmagazins Kontext.
Das politische Magazin, das auf kontextwochenzeitung.de erscheint und samstags gedruckt der taz beiliegt, ist ein Weggefährte von Kretschmann, seit er mit einer grün-roten Regierung im März 2011 nach sechs Jahrzehnten die CDU ablöste. Allerdings ein kritischer: Kontext startete im April 2011 und versprach, der neuen Regierung genau auf die Finger zu schauen, und das erledigt speziell Henkel-Waidhofer. „Das passt den Grünen genauso wenig wie allen anderen Parteien“, brummt Josef-Otto Freudenreich, Mitgründer und Redaktionsleiter von Kontext. Auch die Protestbewegung Stuttgart 21 hatte anfangs damit zu kämpfen, dass Kontext sich nicht als ihr Sprachrohr instrumentalisieren ließ.
In Stuttgart scheint heute die Sonne, und Freudenreich rennt gerade in seinem Büro an der höllisch befahrenen Hauptstätter Straße hin und her, auf der Suche nach Streichhölzern. Er ist Jahrgang 1950, war früher viele Jahre Chefreporter bei der Stuttgarter Zeitung. Er ist ein harmonieinteressierter Mensch, aber dass Journalismus der Aufdeckung von gesellschaftlichen Missständen dient, das glaubt er nicht nur, das hat er immer praktiziert. Wächter- und Wolff-Preise künden davon.
Wie seine Mitstreiter war bei ihm im Zuge der Entwicklung des Verkehrs- und Immobilienprojekts Stuttgart 21 das Gefühl immer stärker geworden, dass die baden-württembergische Gesellschaft dringend ein unabhängiges Bürgermedium bräuchte. Das Gefühl trog nicht: Heute ist Kontext eine wichtige Stimme in Stadt und Bundesland. Und wird getragen von 250 Mitgliedern und 1.500 zahlenden Abonnenten. Dazu kommen Lizenzgebühren von der taz.
Die Leser zahlen, obwohl sie nicht müssten, weil der Journalismus ja frei im Internet steht? Andersherum: Sie ermöglichen das komplett journalistische und werbefreie Angebot. Der kritische, nachhaltige, eigenständige Themenjournalismus, mit dem das vielzitierte Projekt krautreporter.de den Onlinejournalismus retten will: Es gibt gute Argumente, dass Kontext ihn längst macht.
Der Laden läuft, aber er läuft gerade so. Kontext geht von 15.000 Lesern aus, das heißt, es zahlt bisher jeder zehnte. Er wünsche sich, sagt Freudenreich, dass „das Bewusstsein bei den Kontext-Lesern noch mehr wächst, dass die Zeitung nur leben und sich weiterentwickeln kann, wenn mehr bereit sind, sie zu unterstützen.“ Sechs Journalisten können bisher auf Honorarbasis bezahlt werden, insgesamt hat Kontext etwa 20 regelmäßige Autoren. Darunter renommierte Schriftsteller wie Heinrich Steinfest und Wolfgang Schorlau, die auch mal zur Irritation mancher Leser Daimler-Limousinen autotesten.
Nicht nur in der Staatskanzlei verfolgen sie genau, was in Kontext steht, sondern vor allem auch in den Medienhäusern des Landes. Kritische Mediengeschichten sind eines der Alleinstellungsmerkmale von Kontext in einer Branche, die sehr ungern die allzeit beschworene Transparenz auf sich selbst anwendet. Gerade schickte die Eßlinger Zeitung ihre Anwälte los, um Kontext eine Aussage über die Höhe ihrer Rendite zu untersagen. Ohne sie zu dementieren. Das kostet Kontext Geld, aber gerade Medienthemen werden mit am meisten gelesen, gerade in personell ausgedünnten und von verschlechterten Arbeitsbedingungen betroffenen Verlagshäusern und Rundfunkanstalten. Kretschmanns Ice-Bucket-Nominierung lief übrigens ins Leere. „Kontext macht so was nicht“, sagt Freudenreich.
■ Peter Unfried, 50, ist Chefreporter der taz.