Wer hat Schuld am Tod von Robert S.?

Das Landgericht Lübeck eröffnet den Prozess gegen zwei Polizisten, die einen betrunkenen Jugendlichen nachts auf der Straße aussetzten. Der 18-Jährige verunglückte tödlich. Dass die Polizisten vor Gericht kommen, mussten seine Eltern erst erzwingen

von ELKE SPANNER

Es war tiefe Nacht und eisig kalt, doch Robert S. war barfuß und ohne Jacke unterwegs. Er torkelte. 2,84 Promille Alkohol hatte der Schüler im Blut, wieein Rechtsmediziner später feststellen sollte. In diesem Zustand war er nicht mehr in der Lage, den Heimweg von der Diskothek „Ziegelei“ in Groß Weeden zur elterlichen Wohnung in Lübeck zu finden. Robert S. verirrte sich. Ein Streifenwagen mit zwei Beamten aus Ratzeburg gabelte ihn auf und nahm ihn mit. Etwa eine Stunde später ging bei der Polizei eine Unfallmeldung ein: Ein 18-jähriger Junge war auf der Kronsforder Landstraße zwischen Bliesdorf und Lübeck überfahren und getötet worden. Es war Robert S.

Was war in der Zwischenzeit geschehen? Man weiß es nicht. Über vier Jahre ist es her, dass der Schüler im Dezember 2002 ums Leben kam, und erst ab heute wird ein Gericht versuchen, die Ereignisse dieser Nacht aufzuklären. Das Lübecker Landgericht eröffnet den Prozess gegen die beiden Polizisten, die den volltrunkenen Jungen damals in ihren Wagen geladen hatten – und ihn wenig später an einer Hauptstraße wieder absetzten und seinem Schicksal überließen. „Aussetzung“ heißt das Delikt, dessen sie angeklagt sind. Sollten sie verurteilt werden, drohen ihnen zwischen drei und zehn Jahren Haft. Damit verlören sie auch ihre Stelle.

Vier Jahre lang sah es so aus, als würde niemals jemand für den Tod des 18-Jährigen zur Rechenschaft gezogen werden. Das Verfahren gegen die 20-jährige Todesfahrerin, die Robert S. auf der Fahrbahn erst zu spät bemerkt hatte, wurde eingestellt. Auch für die beiden Polizisten, die den volltrunkenen Jungen auf der Straße absetzten, sollte dessen Tod keine Konsequenzen haben.

Die Lübecker Staatsanwaltschaft hatte keinen Grund gesehen, sie vor Gericht zu stellen. Die Polizisten hatten zu Protokoll gegeben, Robert S. habe das Fahrzeug auf eigenen Wunsch verlassen, und den Ermittlern hatte diese Erklärung gereicht. Die beiden Beamten, begründete Sprecher Klaus-Dieter Schultz die Entscheidung, hätten den tödlichen Verkehrsunfall nicht vorhersehen können. Ihnen sei nicht einmal nachzuweisen, dass sie die hilflose Lage des Jungen hätten erkennen können. Der Generalstaatsanwalt stimmte dieser Begründung zu. Die Akten wurden geschlossen.

Die Familie des Getöteten aber wollte einen Prozess. Die Eltern konnten sich nicht damit abfinden, ihr Kind verloren zu haben und dann niemals die Wahrheit darüber zu erfahren, wieso es zu seinem schrecklichen Tod kam. „Ich möchte verstehen, warum die Polizisten so gehandelt haben“, sagte die Mutter Ewa S. den Lübecker Nachrichten. Deshalb stiegen die Eltern in den Ring für einen Kampf, der fast aussichtslos erschien – und gewannen. Das Oberlandesgericht (OLG) zwang nun die Lübecker Staatsanwaltschaft, die beiden Polizisten vor Gericht zu bringen.

Solch ein Klageerzwingungsverfahren, sagte ihr Rechtsanwalt Klaus Nentwig, „kriegt man alle 20 Jahre einmal durch“. In diesem Fall aber sind zu viele Fragen offen geblieben, als dass auch das OLG den Fall zu den Akten hätte legen wollen. Die Frage zum Beispiel, wieso die Beamten den Jungen nicht in eine Ausnüchterungszelle brachten. Oder warum sie ihn nicht nach Hause fuhren, zu seinen Eltern, bei denen der Schüler noch wohnte. Prozessentscheidend wird die Antwort auf die Frage sein, ob seine Hilflosigkeit für die Polizisten wirklich nicht erkennbar war. Zweifel sind angebracht, so befand das OLG. Mehr noch: Das Gericht sieht einen hinreichenden Tatverdacht. „Die Aussichten auf eine Verurteilung der Polizisten sind wahrscheinlicher als auf ihren Freispruch“, urteilte die Kammer. Denn der 18-Jährige hatte nicht nur über zwei Promille Alkohol im Blut und war für eine kalte Dezembernacht vollkommen unangemessen gekleidet.

Dass die Polizisten ihn überhaupt mitnahmen, hatte eine Vorgeschichte, die auch bereits auf seine Verfassung hinwies: Als Robert S. die Diskothek, in der er sich mit Freunden betrunken hatte, am frühen Morgen verlassen hatte, war er gestürzt und ohnmächtig geworden. Umstehende alarmierten die Leitstelle der Polizei, die schickte ein Notarztteam. Als der 18-Jährige wieder bei Bewusstsein war, weigerte er sich jedoch, mit ins Krankenhaus zu fahren und lief zu Fuß los. Das war der erste Kontakt der Polizei mit Robert S. in dieser Nacht.

Der zweite war nur wenige Minuten darauf. Robert S. klingelte an einem fremden Haus. Er glaubte, zu Hause zu sein, und beharrte darauf, bis die Bewohner die Polizei informierten. Die Leitstelle schickte den Streifenwagen mit den beiden Ratzeburger Beamten vorbei, die den 18-Jährigen in ihre Obhut nahmen – und nur kurz darauf wieder daraus entließen. Etwa zwei Kilometer von der Stelle entfernt, an der die Polizisten Robert S. am Straßenrand zurückließen, wurde er rund eine Stunde später von einem Auto überrollt und getötet.