: Deutschtest für Deutsche
Die Rede von Günther Oettinger zeigt, wie sehr sich das wiedervereinigte Deutschland von den Maßstäben der alten Bundesrepublik entfernt hat. Das verheißt wenig Gutes
Zafer Șenocak, 1961 in Ankara (Türkei) geboren, ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihm die Essaysammlung „Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch“ (Babel Verlag 2006).
Sollte man Günther Oettinger nicht dankbar sein für seine offenen Worte? Nicht seine inzwischen in Teilen relativierte Rede über die Rolle des verstorbenen ehemaligen Ministerpräsidenten Filbinger während des Dritten Reiches ist dabei von Belang. Sondern das Licht oder besser gesagt: der Schatten, den sie auf den Zustand der deutschen Gesellschaft im Jahre 2007 geworfen hat. Er zeigt, wie sehr sich dieses wiedervereinigte Deutschland von der alten Bundesrepublik, wie sie bis 1990 existierte, entfernt hat.
In diesem Neudeutschland ist strittig, ob SA-Mitglieder Nazis waren. Es ist vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis man auch über SS-Mitglieder behaupten wird, sie wären keine Nazis gewesen. In jener alten Bundesrepublik, die heute in der Erinnerung verblasst, hätte sich Herr Oettinger schon vierundzwanzig Stunden nach seinen Formulierungen um einen Job in der freien Wirtschaft bemühen müssen. In Deutschland von heute aber kann ein Mann auch nach einer solchen Rede Rückgrat zeigen. Dazu braucht es anscheinend nicht einmal mehr Mut. Es ist einfach nur politisches Kalkül. Es ist „ernst gemeint“, wie es in der ersten rechtfertigenden Erklärung Oettingers noch hieß. Es lohnt sich. Auch wenn der Rückzug in Halbschritten hinter „die Grenzen des Vertretbaren“, wie es der SPD-Vorsitzende Beck fordert, unvermeidbar zu sein scheint. Wer aber legt die Grenzen des Vertretbaren fest?
Wahrscheinlich war der Historikerstreit Mitte der Achtzigerjahre ein wichtiger Vorbote für die geistige Verfassung des wiedervereinten Deutschlands. Damals freilich gab es Kontroversen. Heute aber geht es nur um die Frage, wie weit man gehen kann, ohne seinen Hut nehmen zu müssen. Die Testperson heißt dieses Mal Oettinger. Er hat ja mit Tests so seine Erfahrungen. Von Herrn Oettinger müssen sich Zuwanderer hin und wieder in kulturellen Leitfragen belehren lassen: Stichworte Leitkultur, Muslimtest.
Dieses Mal aber handelt es sich um eine Deutschprüfung für Deutsche. Bei der geht es vor allem um Folgendes: Wie weit kann ich mich von der bundesrepublikanischen Staatsräson – der eindeutig negativen Bewertung der NS-Zeit und ihres Personals – entfernen, ohne aus dem Rahmen zu fallen. Aber so weit sind wir ja noch nicht. Auf keinen Fall möchte man die Nazidiktatur relativieren. Oder doch? Wer könnte ernstlich etwas dagegen haben, dass auch Deutsche das Leid, das ihnen während des Krieges und danach widerfahren ist, thematisieren? Deutsche waren ja auch Opfer, Bombenopfer, Vertriebene. Sie wurden durch die Nazis verführt und in Gewissenskonflikte gestürzt, wie etwa der Marinerichter Filbinger.
Nein, auf diese Weise wird sich Deutschland im 21. Jahrhundert nicht neu erfinden können. Vielmehr wird es hart im 19. Jahrhundert landen, in der Pubertätsphase des deutschen Nationalstaats. Doch wird dieses Deutschland dann attraktiv sein für Menschen, die hierher zuwandern? Attraktiv für sich selbst? Für seine Nachbarn? Wird es wache, weltoffene Köpfe anziehen? Oder wird es eher ein Land sein, wo die Hautfarbe über die Gesundheit entscheidet?
Ich jedenfalls wurde in den Siebzigern in einem anderen Land sozialisiert und ich habe mich auch in ein anderes Land einbürgern lassen. Jedenfalls bilde ich mir das ein. Ein Land, das mich gerade durch seine vorbehaltlose Selbstkritik begeisterte, eine Gesellschaft, die fähig zum zivilen Streit und zur Integration war, getragen nicht von quälenden Identitätsdebatten, sondern von vorgelebten, materiell und emotional erfahrbaren Werten, die auch verkörpert wurden von politischen Köpfen wie Gustav Heinemann, Willy Brandt, Richard von Weizsäcker, Hildegard Hamm-Brücher. Sollten wir, können wir den Landesvater Oettinger neben diese Personen stellen. Wie sähe das wohl aus?
Die alte Bundesrepublik war nicht nur wirtschaftlich ein erfolgreiches Land. Sie hatte auch eine bundesrepublikanische Identität geschaffen, die heute weitgehend belächelt wird, weil sie wie eine Versicherungspolice gegen jeglichen Nationalismus fungierte. Sie hatte eine kritische Öffentlichkeit, die nicht nur kontrollierte, sondern auch eine orientierunggebende Funktion hatte. Einige Achtzigjährige erinnern uns heute noch an diese Zeit. Man lässt sie noch ihre Statements abgeben, wohl wissend, dass sie diese Gesellschaft kaum noch erreichen. Sie sind ja nicht so jung geblieben wie Martin Walser, der den Sprung in die neue Zeit mühelos schaffte. Auch mit einer Rede übrigens, die erst dann umstritten wurde, als Ignaz Bubis seine Rhetorik wohl ganz richtig verstanden hatte.
Meine Generation aber schweigt. Sie hat sich von Politik und Gesellschaft abgewandt. Der Schriftsteller von heute ist Kleinunternehmer, die erfolgreicheren können sich schon als Mittelständler fühlen. Und so verhalten sie sich auch. Nichts wagen, nicht anecken, immer schön dem Zeitgeist nacheifern, die Gunst des Publikums bedienen, egal wie regressiv, wie reaktionär, auf solche Adjektive kommt es ja nicht mehr an. Prämiert wird, was wohlfeil ankommt.
Das alles hat fatale Konsequenzen für die gesellschaftliche Entwicklung und den kritischen Diskurs, ohne den eine demokratische Gesellschaft nicht auskommt. Intellektuelle Debatten werden inzwischen von so genannten Experten dominiert, am liebsten im Fernsehformat. Sie erreichen meistens nur mittleres Talkshowniveau.
Deutschland im Jahre 2007 ist scheinbar weit zurückgefallen hinter die moralische Verfasstheit und die gesellschaftliche Reife der untergegangenen Bundesrepublik. Das schmerzt, sollte jeden schmerzen, der dieses Land liebt und zu würdigen weiß, was hier nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut werden konnte: der erste erfolgreiche Rechtsstaat auf deutschem Boden. Eine freie, offene Gesellschaft mit einer starken Anziehungskraft für Menschen von überall. Dies alles wurde übrigens erreicht, nicht weil es Leute wie Filbinger gab, sondern obwohl es sie gab. Selbstverständlich gab es auch den von Filbinger gegründeten Weikersheimer Kreis, eine Kaderschmiede der Konservativen. Damals noch am Rande der Gesellschaft angesiedelt, spielt die vorgestrige Weltanschauung solcher Denkkreise inzwischen eine gemeinschaftsbildende Rolle, deren Ansprache nicht mehr nur auf Konservative beschränkt bleibt.
Die Zivilisierung und die Demokratisierung Deutschlands werden nicht durch die Fassaden ritueller Vergangenheitsbewältigung gesichert. Es kommt darauf an, was sich hinter den Fassaden abspielt. Das deutsche Nationalgefühl vagabundiert dort nach wie vor kopflos herum. Deshalb gibt es immer wieder merkwürdige Ausbrüche. Dass diese Ausbrüche zur Normalität werden, gehört ja vielleicht auch zur viel zitierten Normalisierung. Doch immer wenn die Fassade Risse bekommt, werden wir daran erinnert, dass in diesem Land das Verhältnis zur eigenen Geschichte und somit auch das Verhältnis der Bürger zu sich selbst noch lange nicht so geklärt ist, wie neuerdings immer wieder behauptet wird. ZAFER ȘENOCAK