: Ein Gewaltspaziergang
Noch bevor die grün-rote Regierung im Amt ist, deutet sich an, dass die kommende Legislaturperiode für Kretschmann und seine Kollegen kein Spaziergang wird. Die Oppositionsprofis haben wenig Zeit, sich auf ihre neue Rolle vorzubereiten. Die ersten Heckenschützen rüsten sich. Und alles schaut auf Baden-Württemberg. Eine grün-rote Regierung ist neu und damit besonders interessant – auch für die Medien. Vieles wird deshalb davon abhängen, wie sich Kretschmann & Co. öffentlich präsentieren. Für seine PR-Abteilung ist es ein Aufstieg von der Regionalliga in die Bundesliga, mit allen Risiken
von Sandro Mattioli
Joschka Fischer trug Turnschuhe, Winfried Kretschmann bevorzugt Wanderstiefel. Fischer wurde Minister, Kretschmann erster grüner Ministerpräsident. Mehr als ein Vierteljahrhundert liegt zwischen diesen beiden Meilensteinen der Grünen-Geschichte. Längst sind die Grünen in Richtung Mitte der Gesellschaft gegangen, längst tragen sie schwarze Anzüge und Lederslipper. Lange glaubte man in Baden-Württemberg die Ökopartei auf der Oppositionsbank festzementiert, doch jetzt tauscht sie mit der CDU die Plätze. Arne Braun, stellvertretender Pressesprecher der Landtagsfraktion der Grünen, nennt das „einen historischen Vorgang“. Man könnte das, was in Stuttgart passiert, auch als Experiment bezeichnen, ein gigantisches Experiment mit einer geringen Vorbereitungszeit freilich: nur etwas mehr als sechs Monate. Denn vor dem 30. September, als im Schlossgarten die Wasserwerfer gegen die Bürger angerückt waren, glaubte kein Grüner an die Chance. Danach deutete vieles darauf hin, dass sich hier eine Regierung mit Hochdruck selbst aus dem Amt geschossen hatte.
Und jetzt, jetzt schreitet eine Reihe von Landtags- und Bundestagsabgeordneten die teppichgedämpfte Treppe im Innern des Landtages hinauf. Durch die Fenster lacht die Sonne herein, der Tross gibt sich so locker, wie es unter diesen Umständen möglich ist. Denn an der obersten Stufe der Treppe wartet schon ihr zukünftiger Chef: Winfried Kretschmann, der Landesvater in spe. „Darf ich noch mal ihren Namen wissen?“, fragt er freundlich Bilkay Öney, beugt sich vor und streckt ihr die Hand hin. Bis vor kurzem war Öney noch Berliner Abgeordnete, bald wird sie baden-württembergische Integrationsministerin. „Öney mit geschlossenem e“, wiederholt Kretschmann und schüttelt ihr die Hand. Danach wendet sich ihr ein Mann in grünem Hemd und legerem Sakko zu. „Hallo, Jürgen Walter, ich bin für Kultur zuständig.“ Auch er hält ihr die Hand hin. Die Berlinerin schaut ihn fragend an. „In der Regierung“, schiebt Walter hinterher, dann begrüßen sich die beiden.
Die Regierung lernt sich erst einmal kennen
Es ist Mittwoch, 4. Mai, Winfried Kretschmann und Nils Schmid haben die Journalisten des Landes in den Landtag eingeladen, um ihr künftiges Kabinett vorzustellen. Die Journalisten werden dabei Zeuge, wie sich die angehende Regierung kennenlernt. Schnell bildet sich eine Traube rund um die Neuankömmlinge, überall Diktiergeräte und Kameras. „Gehen wir doch einfach mal da rüber, um uns kurz zu besprechen“, schlägt Nils Schmid, der künftige Juniorchef, deshalb vor. Doch aus der Besprechung wird nichts, die Reporter trotten dem Tross einfach hinterher. Die Vorstellung der Minister beginnt daher ohne große Planung. Winfried Kretschmann geht voraus in Richtung einer Ecke am Ende der Fensterfront des Landtagsgebäudes und winkt sein künftiges Kabinett zu sich. Die Gruppe schart sich vor einer grün-roten Stellwand. Kretschmann beginnt die Kolleginnen und Kollegen vorzustellen – jeden einzeln, mit korrekt ausgesprochenem Namen.
Einen ersten Ausblick darauf, was ihm als Ministerpräsident blühen dürfte, hat Winfried Kretschmann schon gewinnen können, bevor er überhaupt im Amt ist. Ein Reporter fragt ihn: „Herr Kretschmann, Sie haben letzte Woche zusammen mit Herrn Schmid den Koalitionsvertrag vorgestellt, heute jetzt das Personal. Was sehen Sie als erste Amtshandlung, was nehmen Sie sich vor, wenn sie sozusagen nächste Woche gewählt sind, wie geht es dann konkret in der Sache bald los, was werden die ersten Amtshandlungen sein?“ Das ist alter Stil. „Die erste Amtshandlung wird sein, dass wir uns gemeinsam fotografieren lassen“, sagt Kretschmann trocken, ohne eine Miene zu verziehen.
Es sollte ein Spaß sein, und sein Scherz kommt auch an; die Journalisten lachen. Später sagt ein Mann vom Fernsehen, der mit dieser ausweichenden Antwort nicht zufrieden war, zu einem Kollegen: „Das wird ihm morgen um die Ohren fliegen.“ Fast sechs Jahrzehnte CDU haben offensichtlich ihre Spuren hinterlassen. Der Regierungswechsel, die Veränderung, stellt wohl nicht nur die Grünen selbst vor eine Herausforderung. Auch die Medienmachenden positionieren sich. Erste Artikel großer Meinungsmachermedien versammeln bereits jede Menge an Spitzen gegen den konservativen Grünen. Schon jetzt ist klar: Die kommende Legislaturperiode wird für Kretschmann und seine Öffentlichkeitsarbeiter kein Spaziergang werden. Sie dürften alle festes Schuhwerk brauchen. Und möglicherweise auch schusssichere Westen.
Arne Braun, früher Chefredakteur des Stuttgarter Stadtmagazins Lift, findet wenig Zeit in diesen Tagen. Eine halbe Stunde habe er, sagt er, als er sich an einen der Tische vor das Café im Erdgeschoss des Landtags setzt. Dennoch erzählt er dann ausführlich, wie er das erste Mal auf Kretschmann stieß, dieses grüne Urgestein, das wie ein Monolith aus der Masse herausragte. „Meine erste Reaktion war: Um Gottes Willen, und den soll ich jetzt vermarkten? Wie soll das gehen? Der war ganz anders, der erzählte mir von Hannah Arendt und der Bürgergesellschaft.“ Das war vor vier Jahren. Braun sagt, er sei zunächst irritiert gewesen, dann fasziniert. Jetzt vermarktet er einen Denker. Ob das funktioniert, im schnelllebigen Mediengeschäft, wo man kurze und punktgenau zugeschliffene Statements abgeben muss, ohne groß differenzieren zu können?
In Berlin und Hamburg werden die Geschütze ausgerichtet
Es riecht biologisch: Die Gärtner arbeiten gerade Pferdemist in die Blumenbeete vor dem Parlamentsgebäude ein. Braun ist einer von drei Pressesprechern in der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der Landtagsfraktion. Sein Kollege Rudi Hoogvliet bringt Berliner Erfahrung mit und wird Regierungssprecher, Braun sein Stellvertreter. Bis vor kurzem hatten sie es noch recht ruhig, ihre Arbeit war überschaubar. Für die Opposition interessierte sich allenfalls die Landespresse, und die ist schnell mit Informationen versorgt. Man kannte sich und tat sich in der Regel nicht weh, es sei denn, der ein oder andere Journalist fühlte sich bemüßigt, den Grünen in die Suppe zu spucken. Auch die jetzt auf den Markt gekommene Kretschmann-Biografie von Johanna Waidhof-Henkel und ihrem Mann Peter, beides langjährige Beobachter der Landespolitik, fiel überaus freundlich aus.
Doch in Berlin und Hamburg, heißt es, würden schon die Geschütze justiert. Die Bild-Zeitung sammle Munition, wird in Journalistenkreisen weitergegeben. Und auch die übrige Presse wird wohl sehr kritisch beäugen, was da im Ländle passiert. Wenn Kretschmann & Co. dann noch die größtmögliche Transparenz ausloben, werden seine Botschafter alle Hände voll zu tun haben, den Fluss der Nachrichten so zu steuern, dass sie nicht als Torpedo zurückkommen. Daneben bleibt die übliche Arbeit zu bewältigen. Von überall auf der Welt gehen Nachfragen ein, selbst in Japan interessiert man sich für die neue Regierung in Baden-Württemberg. Eine neue Situation für die grüne Pressestelle. „Aushilfskräfte einzuarbeiten würde viel zu lange dauern“, sagt Braun. Also machen die drei die Arbeit weiterhin allein. „Durchatmen können wir nicht, wir hecheln vornedraus“, sagt Braun.
Die Medienarbeit hat schlagartig eine neue Qualität erreicht. Das Geschäft ist brutal, das Unberechenbare ist zum Alltag geworden, das Vertraute zur Seltenheit. Es geht jetzt nicht nur um politische Positionen, sondern vor allem um Exklusivitäten und (scheinbare) Skandale. Einen Vorgeschmack haben die grünen Propagandisten schon bekommen. Bevor die Herrschaften von den Magazinen und Boulevardblättern zum Interview mit Kretschmann anreisen, wollen sie bereits wissen, was er sagt. Schlagzeilenträchtig, ja oder nein? Gibt es eine Exklusivmeldung, ja oder nein? In diesem Konkurrenzkampf, der von der Vermarktbarkeit der Meldung lebt, werden sich die grünen Pressesprecher zurechtfinden müssen – und sich noch manch blutige Nase holen. Der Einzige, der damit Erfahrung hat, ist der künftige Regierungssprecher Rudi Hoogvliet.
Dazu kommt, dass die Grünen sich selber erst finden müssen, sie sind im Moment eine Partei im Ausnahmezustand. Es heißt, in den Bürogebäuden seien die Ohren zuletzt größer und größer geworden, der Laufverkehr auf den Gängen nahm stark zu. Wer bekommt welche Stelle? Wer bringt sich wo in Stellung? Er habe kaum mehr in Ruhe telefonieren können, berichtet ein Funktionär; immer habe er das Gefühl gehabt, belauscht zu werden. Wenn es um Stellenbesetzungen geht, unterscheiden sich Parteien wohl kaum, egal ob konservativ oder progressiv. Für das Postengeschacher im Vorfeld braucht man keine Regierungserfahrung.
Das ist doch klar, dass nicht alle zufrieden sind
Auch bei Kretschmann kam schon Unmut wegen der Besetzungen an. „Das ist doch klar, dass nicht alle zufrieden sind, wenn sie nicht berücksichtigt werden“, sagt er und verweist darauf, dass das eben so ist, wenn das Amt zum Mann oder zur Frau kommt. Das klingt so entspannt. Nur: In diesem Fall war er der Souverän, der darüber bestimmt hat, nicht das Volk.
Auf der Homepage der Landtagsfraktion sind derzeit nur zwei Stellen ausgeschrieben, parlamentarische Berater werden gesucht. „Falls Sie die neue Landtagsfraktion der Grünen mit Ihrer Arbeitskraft unterstützen möchten, so bitten wir darum, von Initiativbewerbungen abzusehen. Vielen Dank für Ihr Verständnis.“ Pressereferenten werden keine gesucht. Doch wenn die mächtigen Geschütze der Journaille erst einmal das Feuer eröffnen, dürften schnell noch einige Ausschreibungen dazukommen.