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Archiv-Artikel

Vor der Tür

„Bitteschön. Dankesehr.“ Unter Bremens Wohnungslosen geht es auf der Straße ausgesprochen höflich zu. „Das liegt daran, dass die Jungs hier zu Hause sind“, sagt der Sozialarbeiter Jonas Pot d’Or. Etwa 400 Menschen leben in der Stadt in ungesicherten Wohnverhältnissen. Ein Besuch am Frühstückstisch

Der Schlüssel zur eigenen Wohnung bedeutet mehr als ein Dach über dem Kopf. Es ist auch der Schlüssel zur Normalität

VON EIKEN BRUHN (TEXT) UND KATHRIN DOEPNER (FOTOS)

Geld, Arbeit, Wohnung, eine Beziehung: Es ist immer dasselbe, was sich die Männer von Jonas Pot d’Or wünschen. Anbieten kann ihnen der Sozialarbeiter allerdings immer nur Hack, Käse oder Mettwurst. Ein dick belegtes Brötchen, dazu Kaffee oder Tee. Etwas dabei haben ist wichtig, um ins Gespräch zu kommen, sagt Pot d’Or, der sich seit zehn Jahren als einziger Streetworker um Bremens Wohnungslose kümmert. Seine Klienten kennen ihn nur als Jonas. Nachnamen stören auf der Straße nur. Wer duzt, gehört dazu, wer siezt, erscheint verdächtig.

Die meisten der Männer, die an diesem Mittag am Bahnhof abhängen, begrüßen den 47-Jährigen wie einen guten Bekannten. „Ey, schön, dich mal wieder zu sehen“, sagt ein Punk mit „Spendenbüchse“ erfreut. Wann sie endlich mal wieder Boccia spielen würden, will ein anderer wissen. Pot d’Or nennt den nächsten Termin und schenkt Kaffee aus der Thermoskanne aus. „Milchpulver und Zucker?“ „Nee, weißt du das immer noch nicht? Ich trinke den doch immer schwarz.“ Bitteschön. Dankesehr. Es geht ausgesprochen höflich und freundlich zu, niemand benimmt sich so, als halte er das Umsonst-Frühstück für sein gutes Recht. Die vorbeieilenden Passanten erscheinen im Vergleich kalt und unfreundlich. „Das liegt daran, dass die Jungs hier zu Hause sind“, erklärt Pot d’Or, „die benehmen sich so wie andere Leute, die Besuch in ihren Wohnzimmern empfangen.“

Untereinander kann der Ton rau werden. Ohne dass es einen erkennbaren äußeren Anlass gibt, rennt einer dem anderen hinterher und haut ihm eine runter. Es geht irgendwie um eine Geldgeschichte, wie meistens. Pot d’Or greift nicht ein, aus Erfahrung weiß er, dass sich die Angelegenheit von selbst regelt. So auch dieses Mal, ein dritter trennt die beiden Streithähne. „Ey, was soll’n das?“ Zusätzlichen Ärger kann hier niemand gebrauchen.

Nicht alle, die auf der Straße abhängen, leben auch dort. Viele kommen dazu, weil sie nirgends so schnell und einfach Kontakt bekommen. In ungesicherten Wohnverhältnissen leben heutzutage viele, wie viele kann Pot d’Or nicht sagen. 300, 400. Je nachdem, was man als gesichert bezeichnet. Nur etwa 150 Männer, so schätzt Pot d’Or, schlafen in Bremen im Freien. Frauen, die „Platte machen“, sind die Ausnahme. Ohne „Beschützer“ laufen sie Gefahr vergewaltigt zu werden. Deshalb sehen die meisten zu, dass sie bei irgendjemand unterkommen, der ihnen einen Schlafplatz anbietet. Im Tausch gegen Sex. Die Frauen nennen es „Beziehung“, auch wenn diese wöchentlich wechselt, für Pot d’Or ist es Prostitution. Für die Stadt hat das Arrangement den Vorteil, dass die Frauen so weniger kosten, für sie müssen keine Schlafplätze gestellt werden. Es wäre schon gut, sagt Pot d’Or, wenn es eine Sozialarbeiterin für die Frauen geben würde.

Doch weder er noch sein Chef stellen öffentlich diese Forderung. Angesichts dessen, was alles fehlt, erscheint eine Sozialarbeiterin nur für Frauen wie Peanuts. „Die Schere im Kopf“ haben Bremer Politiker dieses Verhalten getauft. Der Begriff tauchte im Untersuchungsausschuss zum Tod des Kindes Kevin immer wieder auf und meint die Resignation der Sozialarbeiter. Es wird aufs Geld geguckt, nicht darauf, was Menschen brauchen. „Wir berauben uns der eigenen Kreativität“, sagt Bertold Reetz, Leiter der Wohnungslosenhilfe bei der Inneren Mission. Reetz hat ein zusätzliches Problem: Sein Klientel ist nicht klein und hilflos, wie die Kinder dieser Stadt, denen jetzt in Wahlkampfzeiten ganz viel Unterstützung versprochen wird. Deshalb wird auch Reetz’ Traum von einem „Wahlgeschenk“ ungehört bleiben. 200 Wohnungen hätte er gerne zur freien Verfügung. Dann müsste ein Teil derjenigen, die einen festen Wohnsitz wollen, keine Mietverträge für die letzten Löcher unterschreiben. Etwas anderes finden sie auf dem freien Markt selten. „Desolat“ sei der, sagt Reetz. Dass es in Bremen viel zu wenig günstigen Wohnraum für Alleinstehende gibt, räumt sogar die Bremer Sozialsenatorin ein. Dennoch ändert sie nichts an der festgelegten Mietobergrenze von 265 Euro. Noch ist nicht klar, wie viele Menschen deswegen ihre Wohnung räumen müssen. Reetz befürchtet, dass durch die Umzüge die Schwächsten rausfallen werden, diejenigen, „denen wir gerade mühevoll eine Wohnung organisiert haben“.

Der Schlüssel zur eigenen Wohnung bedeutet mehr als ein Dach über dem Kopf. Wer ihn nicht besitzt, für den schließt sich auch das Tor zur Normalität, wie das Beispiel von Michael Schweppe zeigt. Der 43-Jährige ist eine Ausnahme, nicht nur, weil er nichts dagegen hat, dass sein Name in Zusammenhang mit Obachlosigkeit in der Zeitung erscheint. Ihm konnte Jonas Pot d’Or auch einen seiner Wünsche erfüllen, den nach Arbeit. Seit zwei Jahren unterstützt der ehemaliger Krankenpfleger als Ein-Euro-Jobber Pot d’Or auf seinen Touren durch die Stadt, verteilt Kaffee, Schlafsäcke und Kleidung oder begleitet die, die es wollen, auf’s Amt.

Schweppe kennt die Lage der Männer genau: Zwei Jahre war er selbst „draußen“, wie er es nennt. Seinen ehemaligen Saufkumpanen am Bahnhof galt er als Vorbild, als einer, der es geschafft hat. Doch dann bekam Schweppe Stress mit seinem neuen Vermieter, der, wie Pot d’Or bestätigt, versuchte Schweppe auszunehmen und gleichzeitig aus der Wohnung zu mobben, stellte Wasser und Strom ab und führte Mietinteressenten durch die „möblierte Wohnung“. Die Möbel gehörten wohlgemerkt Schweppe. Der reagierte nach bewährtem Muster: „Komasaufen mit den Leuten am Bahnhof.“ Hoffte, dass niemand etwas merkte. „Verstecken“ und „Abtauchen“ nennt er das und erklärt den Weg vom gesellschaftlich akzeptierten Bürger zum Penner auf der Parkbank. Man lässt alles geschehen, häuft Schulden an, was heute viel schneller geschieht als früher, weil zwar die Energiekosten explodiert sind, nicht aber die staatliche Unterstützung. Außerdem kommt das Amt nicht mehr für Rückstände beim Energieversorger auf, der wiederum nicht lange fackelt und den Strom abstellt. Kündigungen von Job und Wohnung kommen so von ganz alleine, Beziehungen zerbrechen. Den Rest besorgt der Alkohol.

Doch anders als frühere Arbeitsgeber fragen Pot d’Or und seine Kollegin nach, wenn Schweppe sich wegen eines Katers krank meldet. Außerdem erfuhr Pot d’Or umgehend von den Jungs auf der Platte, was los war. „Die können ganz süß sein und sich umeinander kümmern.“ Jetzt wohnt Schweppe bei seinem Bruder und seiner Mutter, bis er im Programm „Intensivbegleitetes Wohnen“ aufgenommen wird. Für ihn eine schwierige Entscheidung, gibt er doch damit offen zu, dass er es alleine nicht schafft. Der Vorteil an solchen Wohnhilfen: Die Leute können das Wohnen und den Umgang mit Geld üben und die Wohnung behalten, nachdem die Betreuung aufhört. 16 Plätze gibt es.

Die Alternative sind die eigenen Notunterkünfte der Inneren Mission oder die „Billighotels“. Fünf gibt es davon in der Stadt, 130 Plätze in Einzel-, Zwei- und Dreibettzimmern. Mehr als schlafen ist in diesen nicht drin und manchmal nicht einmal das. Keine guten Voraussetzungen, wenn jemand pünktlich um acht Uhr bei der Arbeit erscheinen soll. Besonders schlimm ist es in der ersten Monatshälfte, wenn noch Geld da ist zum Versaufen. „Dann ist so viel Randale, da kommst du vor halb drei nicht ins Bett“, erzählt einer. Wer der Pot d’Or ist, weiß er nicht, aber als Sozialarbeiter ist der sofort erkannt. „Ey, bist du von der Caritas?“ ist die erste Frage an Pot d’Or. Die zweite: „Hast du nicht einen Job für mich?“ Muss nichts dolles sein, etwas zu tun haben wäre gut. Doch von diesen Jobs, die eine „soziale Stabilisierung/Tagesstrukturierung“ leisten sollen, gibt es seit den Hartz-Reformen zu wenig, das hat kürzlich auch der stellvertretende Leiter der Bremer Arbeitsgemeinschaft für Integration und Soziales festgestellt, dem Zusammenschluss von Arbeits- und Sozialamt. Pot d’Or rät dem Mann, beim Amt nach einer bestimmten Fortbildung für Lagerarbeiter nachzufragen. Er muss es mehrfach erklären. Ob er wirklich verstanden wurde, ist am Ende nicht ganz klar.

Woran misst er eigentlich den Erfolg seiner Arbeit? Diese Frage bekommen Sozialarbeiter in Bremen seit dem Tod von Kevin besonders häufig gestellt. Pot d’Or guckt irritiert, hat aber dennoch eine Antwort. „Wenn jemand einen Lebenssinn wieder gefunden hat.“ Er hilft beim Suchen.