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Archiv-Artikel

edinburgh ohne burg von RALF SOTSCHECK

Digitalkameras haben erhebliche Nachteile. Wer hat denn früher, im Zeitalter der Papierabzüge, Fotoalben ins Wirtshaus geschleppt, um die Mittrinker damit zu langweilen? Heutzutage kann man mit Handys knipsen. So hat fast jeder Kneipengast Dutzende von Bildern in der Hosentasche und lauert auf eine Gelegenheit, sie zu zeigen. In den Pubs herrscht eine Atmosphäre wie in einem John-Wayne-Film: Wer zieht zuerst? Digitalkameras haben aber noch ganz andere Nachteile. Wurde man früher von einer Touristenfamilie gebeten, sie vor irgendeiner markanten Sehenswürdigkeit zu fotografieren, musste man lediglich auf den Auslöser drücken, und die Sache war erledigt. Die Familie merkte erst nach ihrer Rückkehr ins Heimatland, dass ihre Köpfe abgeschnitten waren. Bei einer Digitalkamera wird man umgehend als fotografische Niete entlarvt und muss die Übung so lange wiederholen, bis die Touristen mit dem Ergebnis zufrieden sind. Oder bis sie einen hassen.

Vorgestern im Bus vom Zentrum Edinburghs zum Flughafen: Die Fahrt sollte 25 Minuten dauern, und die entpuppten sich als äußerst unterhaltsam. Auf dem Oberdeck saß vorne eine Inderin. Eine junge Italienerin nahm neben ihr Platz und bat sie in rudimentärem Englisch, ein Foto von ihr mit Edinburgh Castle im Hintergrund zu machen. Die Inderin, offenbar eine Hobbyfotografin, hatte keineswegs die Absicht, lediglich einen Schnappschuss zu machen.

Sie befahl der Italienerin zunächst, sich hinzusetzen und den Kopf im rechten Winkel wegzustrecken, damit die schottische Burg an zwei Seiten italienisch eingerahmt sei. Dann musste sich die Italienerin auf die Bank knien, auf die Lehne setzen und sich schließlich auf die schmale Stange vor dem Fenster zwängen. Keine der Posen gefiel der Inderin, sie hatte noch kein einziges Foto gemacht. Das Gegenlicht sei zu stark, behauptete sie, man müsse das Hintergrundmotiv überdenken. Die Italienerin wandte vergeblich ein, dass es draußen regne, von Gegenlicht also keine Rede sein könne.

Die Inderin hatte sich bereits für Calton Hill auf der gegenüberliegenden Seite entschieden, so dass die Prozedur auf der benachbarten Sitzbank wiederholt werden musste.

Die Italienerin hatte sich gerade über die Rückenlehne drapiert, als der Bus anfuhr, so dass sie zwischen die Sitze purzelte. Als sie sich wieder aufgerappelt hatte, waren Edinburgh Castle und Calton Hill längst am Horizont verschwunden. Endlich erschienen der Inderin die Lichtverhältnisse günstig, und sie drückte zum ersten Mal auf den Auslöser. Das Foto war technisch einwandfrei, doch der Bus war ausgerechnet an einer Reklamewand für „La Dolce Vita“, ein Milchdessert mit Vanillegeschmack, vorbeigefahren. Das Bild könne genauso gut in Rom aufgenommen worden sein, monierte die Italienerin. Der nächste Versuch scheiterte an einer scharfen Bremsung des Busses. Die Inderin konnte sich gerade noch am Haltegriff festhalten. Dabei entglitt ihr jedoch die Kamera, die zum Entsetzen der Italienerin, die eine Schimpfkanonade erster Güte abließ, wie ein Frisbee durch den Bus flog. Leider waren wir dann schon am Flughafen. Ich hoffte vergeblich, dass die beiden ebenfalls nach Dublin fliegen würden.