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Archiv-Artikel

Burger und Berliner Weiße

Wenn zur Frühlingszeit Horden von Schulklassen einfallen, wird Berlin zum modernen Babylon

Am Checkpoint Charlie ist kein Durchkommen, am Holocauststelenfeld vorbeizugehen, geht nur deshalb rempelfrei, weil die Gegend weitläufiger ist. Schüler und Schülerinnen sind, wie ja immer am Ende der Schuljahre, über Berlin hergefallen, und weil die ganze Chose nicht „zeitlich begrenzte Probe auf Nestflucht aus dem Elternhaus“ heißt, sondern Klassenfahrt, sind auch Lehrer dabei. Die schleppen dann ihre Schützlinge ins Mauermuseum und natürlich, jedes volkspädagogisch wertvolle Curriculum legt das nahe, zur Erinnerungsstätte für die ermordeten Juden Europas. Und es ist wie immer. Man erkennt ja den Berlintouristen an seiner viel zu lauten Stimme. In der U-Bahn. Auf der Straße. Wie Kinder, ob jung oder alt. Immer durch Lärmerei sich der anderen vergewissern und die anderen an sich heranziehen. Berliner, ob zugezogen oder eingeboren, sind mürrisch. Alles Routine. Niemand geht in einer Großstadt verloren.

Jugendliche Touristen aber quatschen umso mehr. Jungs röhren. Mädchen quietschen. Meist in Gruppen. Mutige haben ihr geschlechtliches Gegenüber gefunden. Sie küssen sich. Man denkt, Berlin ist als Initiationsplatz zur Darstellung von Intimität geeigneter als, sagen wir, Emden, Speyer, Rudolstadt oder Bad Tölz. Jugendliche üben also Posen. Gut so. Wann sollen sie es sonst tun? Als Erwachsener, Freunde sagen sogar: Als Mann in der Alter-Sack-Liga weiß man: alles super. Wir waren ja auch so. Sagt man dies einer mitfahrenden Mutter – die man immer am Sorge zeigenden Faltenwurf auf der Stirn erkennt –, guckt die, als beleuchte sie ein vergrabenes inneres Kino: „Ja, glauben Sie?“ Oder: „Nein, ich nicht!“ Arme Kinder. Wenn deren Eltern das sagen, verweist das auf innerfamiliäre Verwerfungen, die es gab oder zwangsläufig geben wird.

Berlin ist das Testgelände aller Jugendlichen, das weiß man eben. Junge Menschen tragen Rucksäcke von solch kofferartiger Größe, dass sie nur von auswärts kommen können. Sieht aus wie Überlebensgepäck. Was man auch sieht, ist, dass Jugendliche hier in Berlin cool zu schlendern üben. Nicht mehr den eiligen Schritt einschalten, als müsste man noch pünktlich sein. Sie fragen dann: „Wo kann man dann hier gut abhängen?“ Das Wort abhängen sagen sie, wie sie es auf Viva gehört haben: sehr lässig. Andere können chillen sagen – da hört man dann schwäbische oder fränkische Akzente („dschillen“) heraus.

Man kann aber, alles in allem, neidisch werden auf diese Heranwachsenden. Nicht mehr ganz so ängstlich wie unsereins. Aus dem Hotelzimmer gestohlen nach zehn Uhr abends, um es doch nur bis zur nächsten Eckkneipe zu schaffen, dort eine Berliner Weiße bestellend. Was ja auch schon deshalb peinlich war, weil einem niemand gesteckt hatte, dass dieses Getränk nun wirklich nur Frauen trinken. Oder Touristen. Wir waren jedenfalls genau so, wie es Jugendlichen zukommt. Zu laut, zu wissend, zu cool, also bänglich und tapsig. Am Brandenburger Tor, hinter dem Hotel Adlon, fiel jüngst eine italienische Klasse in ein Steakhouse ein, eben gefolgt von einer schwer multikulturellen Schülerschaft aus, hörte man heraus, Leeuwarden in den Niederlanden. Noch mal ein Neidanfall. Wie unangestrengt die bestellten (fast durch die Bank Burger) – aber woher haben die das Taschengeld, sich ein Mittelklasserestaurant leisten zu können? Redeten unfassbar laut, die Mädchen übrigens separiert giggelnd in höchsten Tonlagen. Manche im Nelly-Furtado-Look, dem Loserinnenmodell der Saison, dementsprechend dauernd „hihihi“ mit scheinlächelnden Augenpartien ausbringend, eine trug sogar Schlangerlederimitatstiefelchen; andere sahen aus wie drogenabhängig, aber ich denke, das ist wohl gerade Mode. Mädchen aus den absolut uncoolen Vierteln einer Stadt, in denen sparkassenangestelltentüchtig das Leben vorbeirauscht. Die Jungs grölten – und tranken Cola.

Klasse anmutend, ohne Frage. Die Lehrer sahen übrigens überhaupt nicht wie Gefängniswärter aus, eher lax und vertrauensselig. Eine bessere Welt, möchte ich denken, sind sie alle, auch wenn sie mal probieren, eine Metropole zu verkraften.

JAN FEDDERSEN

PARALLELGESELLSCHAFTSchlangenlederimitat?! kolumne@taz.de MORGEN: Jörn Kabisch über DAS GERICHT