Polizist Lutz Neumann
: „Es ist immer das gleiche Ritual“

„Seit 20 Jahren habe ich keinen 1. Mai mehr zu Hause verbracht. So bedauerlich es ist: Für die Polizei ist das der Großkampftag im Jahr. Dass am 1. Mai meistens auch noch schönes Wetter ist, macht die Sache für uns nicht einfacher.

Das war auch im Jahr 1987 so. In jener Nacht, als der ganze Spuk anfing, bin ich zum ersten Mal in meinem Leben von der Alarmbereitschaft rausgeklingelt und zum Dienst beordert worden. Aus der Hausbesetzerzeit Anfang der 1980er-Jahre war ich als Polizist zwar schon einiges gewohnt. Aber am 1. Mai 1987 erreichte die Gewalt in Kreuzberg eine neue Dimension.

Auf den Straßen hat sich ein betrunkener, grölender, unberechenbarer Mob ausgetobt. Mit Politik hatte das überhaupt nichts mehr zu tun. Wenn einem als Polizist nichts anderes mehr übrig bleibt, als vor dem Steinhagel hinter den Gruppenwagen zu flüchten, ist das mehr als beängstigend.

Wir trugen damals lediglich Einsatzanzug und Helm, aber keinen Oberkörperschutz und keine Schienbeinschützer. Das haben wir erst in späteren Jahren bekommen. Manche Kollegen haben sich dann damit beholfen, in dem sie sich die Hosenbeine mit Zeitungen ausgepolstert haben.

Noch schlimmer war es eigentlich nur am 1. Mai 1989. Der damals regierende rot-grüne Senat hatte die Deeskalationsstrategie ausgegeben. Einem unserer Wasserwerfer war auf der Brache am Görlitzer Bahnhof der Motor verreckt. Der Wagen wurde von einer Menschenmenge massiv angegriffen. Die fünf Kollegen konnten nicht aus dem Fahrzeug raus und haben über Funk Unterstützung angefordert. Unter dem Wasserwerfer wurde auch Feuer gemacht. Da sind Benzinleitungen. Die Kollegen haben um ihr Leben gebangt.

Ich stand mit meiner Gruppe am Moritzplatz. Wir haben wieder und wieder über Funk unsere Hilfe angeboten. Nach meinem Eindruck hat es allerdings ewig gedauert, bis wir von der Einsatzleitung das Okay zum Losfahren bekamen.

Was haben wir in all den Jahren nicht alles an Konzepten ausprobiert. In letzter Zeit hat sich die Lage zum Glück beruhigt. Die Gruppen, die Krawall zu provozieren versuchen, sind immer kleiner geworden.

Aber egal ob es die Chaoten, Autonome, Erlebnistouristen oder Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind – es ist immer das gleiche Ritual: ‚Mal sehen, wie lange es dauert, bis die Bullen kommen.‘

Erst wird eine Mülltonne auf die Straße geschoben und angezündet. Die Barrikaden werden nach und nach immer größer, bis schließlich das erste Auto in Flammen steht. Dann muss die Feuerwehr in den Bereich reinfahren. Die wird natürlich prompt angegriffen. Deshalb muss die Polizei mit. So geht das Ganze meistens los.

Irgendwann werden wir einen ganz normalen 1. Mai haben. Davon bin ich fest überzeugt. Vielleicht in fünf Jahren? Dann fahre ich mit meiner Frau zu Freunden in den Garten und grille.“

PROTOKOLL: PLUTONIA PLARRE

Polizeihauptkommissar Lutz Neumann, 51, war seit dem 1. Mai 1987 jedes Jahr auf der Straße im Einsatz. Seit dem Jahr 2002 verfolgt er die Ereignisse im Innendienst.