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Archiv-Artikel

Bullshit kennt jeder

Die große und genau beobachtende Reportage ist ein wichtiger Baustein des Qualitätsjournalismus. Und damit ein gefährdetes Kulturgut. Wie der Qualitätsjournalismus selbst, der aber viel zu leichtfertig und früh ins Grab geredet wird

von Bernhard Pörksen

Im Jahre 2006 ist in der ehrwürdigen Umgebung des Suhrkamp Verlages ein kleines, äußerst boshaftes Buch des amerikanischen Philosophen Harry Frankfurt erschienen, das sofort zum Bestseller wurde. Es heißt „Bullshit“ und beginnt mit folgenden Sätzen: „Zu den auffälligsten Merkmalen unserer Kultur gehört die Tatsache, dass es so viel Bullshit gibt. Jeder kennt Bullshit. Jeder trägt sein Scherflein dazu bei. Und doch neigen wir dazu, uns damit abzufinden. Die meisten Menschen meinen, sie seien in der Lage, Bullshit zu erkennen und sich vor ihm zu schützen, weshalb dieses Phänomen bislang wenig ernsthafte Aufmerksamkeit gefunden hat und nur unzulänglich erforscht ist. Das hat zur Folge, dass wir nicht sonderlich genau wissen, was Bullshit ist, warum es so viel davon gibt und welchen Zwecken dies dient.“

Diese fehlende Aufmerksamkeit gegenüber dem Bullshit möchte dieses kleine Buch ändern. Es ist eine Abrechnung, das Dokument eines kalten Wutausbruchs, der sich als philosophische Begriffsanalyse tarnt. Worum geht es? Harry Frankfurt meint mit Bullshit einen verlogenen Originalitätswillen, dem es nicht auf Wahrheit ankommt; er meint eine Kultur beziehungsweise Unkultur der Show, des Bluffs, der Inszenierung, des beliebigen Geredes um der Effekte willen. Ohne Erdung, ohne Realitätsorientierung, ohne Relevanz, ohne echtes Engagement. In der Welt des Bullshitters herrscht die Beliebigkeit, das modische Anything goes, das Interesse an wirksamen Illusionen und an starken, intensiv glitzernden Oberflächen, die nur unterhalten, aber nicht zum Begreifen und Durchdringen animieren sollen.

Abscheu vor dem Bluff, Ekel vor der Inszenierung

Sein Buch liest sich lustig, frech und klug – und doch bemerkt man, wenn man genauer liest, wenn man die Stimmung dieses kleinen Textes erfasst: Hier wird gerade über Ethik und Moral geschrieben, über Wahrheitsliebe, über die Abscheu vor dem Bluff, den Ekel vor der bloßen Staffage, der Inszenierung, der Show. Harry Frankfurt, und darauf kommt es mir hier an, erweist sich als ein Meister des Indirekten, als ein Prediger, der weiß, dass Predigten nicht funktionieren, als ein Moralist, der verstanden hat, dass explizite Moralisierung nicht klappt. Weil sie Abwehr erzeugt. Weil sie mit verdeckter Abwertung arbeitet und keinen Umweg zulässt. Weil sie eben gerade nicht berührbar macht, nicht durchlässig, nicht in einer produktiven Art und Weise traurig, sondern eher ratlos und ärgerlich. An dieser Stelle kann ich förmlich hören, wie sich bei Harry Frankfurt schon wieder die Wut aufstaut und wie er mir zuruft: „No more Bullshit!“ Nun gut, ich bin so weit, ich taste mich voran, ich komme zum Thema.

Meine These lautet: In der Sprache und den Bildern der guten, der wirklich guten Reportage ist ein eigenes Ethos angelegt, ein Regelsystem aus Handwerk und Weltbeschreibung, das da heißt: Verzichte auf Großbegriffe! Sei genau! Respektiere die Nuance und nimm dir Zeit! Mache im Mikrokosmos der kleinen Welten den Makrokosmos der großen Fragen erfahrbar! Warte auf den richtigen Moment für das stimmige Bild! Lasse die Botschaft, um die es geht, auf eine stille, eine skrupulöse Art und Weise hervortreten! Wähle den indirekten Weg und vertraue deinen Leserinnen und Lesern! Sie werden schon verstehen und begreifen!

Ethos gegen den Schnell-Schnell-Journalismus

Entscheidend ist – und hier wird die Gattung der Reportage zur symbolischen Form und zum Reservoir der kritischen Auseinandersetzung: Ein solches Ethos steht quer zu einem Schnell-Schnell-Journalismus, programmiert die Entschleunigung und wirbt implizit für einen Realismus mit klarer Relevanz. Ein solches Ethos verzichtet auf Plastikprominente und hektisch arrangierte, auf den schnellen Effekt hin getrimmte Bilder und verweigert sich der handelsüblich gewordenen Tendenz zur künstlichen Dauer-Erregung.

Warum ist dieses Ethos der Genauigkeit so wichtig, warum ist das journalistische Programm, für das Hansel Mieth, Gabriel Grüner und dieser Preis stehen, gerade in diesem Moment, in diesem Stadium der Medienentwicklung so bedeutsam und zentral? Meine Antwort: Es geht hier um eine dokumentarische Kunst, eine Form der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung, die inzwischen als gefährdet und bedroht gelten muss. In vielen Redaktionen fehlt es an Geld und Zeit für die große Geschichte und die aufwändige Recherche. Für die herrliche Irrationalität des kreativen Experiments, das auch einmal schief gehen kann, für die Detailstudie und für die Langzeitbeobachtung, für die Allmählichkeit des genauen Verstehens, ist im real existierenden Journalismus heute nur noch sehr wenig Platz.

An dieser Stelle nur einige wenige Daten und Hinweise zur allgemeinen Situation – Schlaglichter der aktuellen Entwicklung: Deutsche Tageszeitungen haben in den letzten zehn Jahren etwa fünf Millionen Käufer verloren, zahlreiche Magazine sind vom Markt verschwunden oder ächzen unter der Anzeigenflaute und müssen die Preise erhöhen. Das Netz sorgt dafür, dass existenziell wichtige Einnahmen wegbrechen, Anzeigen abwandern, die nicht mehr zurückgewonnen werden können. Und die User sind (dies erweist sich als nicht mehr korrigierbarer Fehler) längst an die Gratiskultur gewöhnt und wollen für hochwertige publizistische Angebote und damit auch für die große Reportage nicht mehr selbstverständlich bezahlen. Kurzum: Der Qualitätsjournalismus hat ein echtes Refinanzierungsproblem und droht seine Basis zu verlieren – ohne dass ökonomisch robuste Alternativen in Sicht wären, ohne dass sich das Trägermedium der Zeitung oder der Zeitschrift einfach austauschen ließe und man mit ein paar Multimedia-Slides auf einer Website echte Abhilfe oder ernst zu nehmende Alternativen schaffen könnte.

Nur noch eine sinnlose Obsession mit toten Bäumen?

Gleichzeitig regiert in der Branche eine längst kontraproduktiv gewordene Lust an der Apokalypse und ein modernisierungshungriger Opportunismus, der das Medium des Gedruckten und die mit ihm eng verbundene Kultur der allmählichen, der notwendig verzögerten Produktion und Reflexion vorschnell verloren gibt. Der Printmarkt wird längst als „Dead Tree Industry“ verspottet. Der Medieninvestor David Montgomery hält das gesamte Business inzwischen – ich zitiere – für eine „sinnlose, egoistische Obsession mit toten Bäumen.“

„Wozu noch Zeitung?“, fragt man sich in einer ganzen Serie auf der Medienseite der Süddeutschen Zeitung. Um dann gleich mit der nächsten Serie fortzufahren – diesmal mit dem Titel: „Wozu noch Journalismus?“ Das ist in etwa so, als ob ein Gärtner seinen Leuten die Frage entgegenschleudert: „Wozu noch Blumen? Warum noch Pflanzen?“

Blogger und Medienjournalisten und auch Medienwissenschaftler überbieten sich inzwischen wechselseitig in ihren oft euphorisch-brüllenden Prognosen, wann die letzte Zeitung gedruckt wird – und sie übersehen dabei: Noch gibt es kein publizistisches Forum, das in ähnlicher Weise Themen von allgemeiner Relevanz auf die Agenda zu setzen vermag, sie überhaupt professionell auszuwählen und publikumsgerecht zu arrangieren verstünde. Deshalb muss man ihnen entgegenhalten: Der Qualitätsjournalismus der Zeitungen und Zeitschriften wird – trotz aller sehr realen Schwierigkeiten – gegenwärtig viel zu leichtfertig und viel zu früh ins Grab geredet. Und die Allianz der Grabredner, die sich da versammelt, ist mehr als kurios.

Und ich möchte hinzufügen: Wir müssen – aus meiner Sicht – die gesamte Debatte über die Zukunft der Printmedien und des Journalismus im Allgemeinen aus ihrer rein ökonomisch bestimmten Umklammerung befreien, uns als Gesellschaft über den kulturellen Wert des Gedruckten, den kulturellen Wert der großen, der aufwendig gemachten Geschichte und Reportage verständigen. Diese Frage darf – bei allem Respekt – nicht den Controllern in den Medienunternehmen überlassen bleiben; sie sind mit ihr unvermeidlich überfordert. Es kann gar nicht mehr nur darum gehen, was Qualitätsjournalismus kostet und ob am 17. Januar 2043 tatsächlich die letzte Zeitung gedruckt wird, ob das Netz alle Medien schluckt und David Montgomery Recht behält. Es geht um etwas anderes – es geht um den Schutz des kulturellen Kapitals, das Journalistinnen und Journalisten, Fotografinnen und Fotografen auf ihren Streifzügen durch die Welt erarbeiten.

Wir brauchen Ermutiger und Oasen für Experimente

In einer Phase echter ökonomischer Schwierigkeiten, in einer Phase der brancheninternen Selbstzerknirschung und der vorschnell herbeigeredeten Untergangsszenarien braucht es vor allem eines: Ermutiger, die unsere Perspektive erweitern, die eine gefährliche Blickverengung durch die Kraft des Gegenbeispiels auflösen. In einer solchen Phase braucht es Schutzzonen und Oasen für Experimente, braucht es Preise und Qualitätszirkel, die immer wieder neu beweisen, was eben doch machbar ist – und was auf dem Spiel steht, welchen Schaden sich diese Gesellschaft zufügt, wenn sie auf diese Möglichkeiten der Selbstbeobachtung leichtfertig verzichtet, wenn sie diese Formen, sich selbst zu sehen, sich selbst zu spüren und mit den Ausgestoßenen in Kontakt zu kommen, nicht mehr pflegt und sich nicht mehr leisten will.

Insofern besitzen der Hansel-Mieth-Preis, das Gabriel-Grüner-Stipendium der Agentur Zeitenspiegel und das Engagement der Stadt Fellbach einen doppelten Wert: Sie zeichnen herausragenden Journalismus und eine herausragende fotografische Leistung aus, das ist das eine. Und sie lenken die Aufmerksamkeit auf das gefährdete Kulturgut des Qualitätsjournalismus und der großen Reportage, das ist das andere. Solche Preise und solche Feste werben für das Ethos des Indirekten und eine Form der genauen Gesellschaftsanalyse, die unterschiedliche Sphären und unterschiedliche Schichten miteinander in Kontakt bringt. Sie verhelfen der Gegenwelt des Authentischen im Moment ihrer Bedrohung wieder zu ihrem Recht. Harry Frankfurt, der Philosoph aus Amerika, hat Recht: Bullshit gibt es wirklich genug.

Gekürzte Fassung der Rede, die Bernhard Pörksen Anfang Mai in Fellbach zur Verleihung des Hansel-Mieth-Preises 2011 der Agentur Zeitenspiegel für exzellente Reportagen gehalten hat. Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zuletzt veröffentlichte er – gemeinsam mit Wolfgang Krischke – das Buch „Die Casting-Gesellschaft. Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien“.