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Archiv-Artikel

UNIONS-POLITIKER WAHREN IMMER SELTENER DAS, WAS LANGE ZEIT KONSERVATIVSEIN AUSMACHTE: DIE FORM Prostatakrebs, Alzheimer, CDU

MATTHIAS LOHRE

Entspannen Sie sich. Atmen Sie tief durch. Entspannt? Gut. Jetzt stehen Sie bitte auf und berichten Ihrer Umgebung laut und ausführlich von Ihrer Krebserkrankung, Ihrer sexuellen Orientierung oder der Demenz eines Angehörigen. Bitte keine Scheu. Sie sind in bester Gesellschaft – oder zumindest in der von Konservativen.

Bis vor vielleicht fünfzehn Jahren galt die Familie auch unter Unions-Politikern als Bollwerk gegen die Zumutungen der Moderne. Das Private blieb – abseits inszenierter Familienfotos – meist privat. Ausgerechnet CDU-Politiker aber wahren immer seltener etwas, das Konservativsein ausmacht: die Form.

Keiner tat das radikaler als Wolfgang Bosbach. Vor zwei Jahren erzählte der CDU-Innenpolitiker dem Spiegel ausführlich, wie es in ihm aussieht, in Körper wie Seele: Er sprach von den Metastasen, die sein Prostatakrebs vor allem in Becken und Wirbelsäule gebildet habe. „Sehr viel Zeit bleibt nicht mehr. Also lebe ich intensiver.“ Prostatakrebs ist vermutlich eine der selteneren Erklärungen für häufige Talkshow-Auftritte.

Wenn Ursula von der Leyen Privates politisch nutzt, spricht sie über ihren an Demenz erkrankten Vater. Ernst Albrecht, 84, einst CDU-Ministerpräsident von Niedersachsen, lebt heute unter demselben Dach wie die Familie seiner Tochter. Ausgerechnet Albrecht, den sogar die FAZ einen „rechten Konservativen“ nannte, verliert in den Erzählungen der Tochter die Herrschaft über sein öffentliches Bild.

„Was für mich eigentlich am traurigsten im Augenblick ist“, sagte die Ministerin im Interview mit dem SZ-Magazin: „Ich bin 54 Jahre alt. 53 Jahre war ich für meinen Vater Röschen, Röschen Albrecht. Aber Röschen gibt es nicht mehr, Röschen ist weg.“ Sie gab das Interview gemeinsam mit der „Tatort“-Kommissarin Maria Furtwängler. Ich wusste noch nicht, dass von der Leyen dasselbe auch bei „Günther Jauch“ erzählte. Deshalb erschienen mir ihre Worte ungekünstelt und authentisch. Aber so zu wirken, fällt vermutlich leicht, sitzt man neben Maria Furtwängler.

DIE FÜNFTAGEVORSCHAU | KOLUMNE@TAZ.DE

Donnerstag Margarete Stokowski Luft und Liebe

Freitag Jürn Kruse Fernsehen

Montag Anja Maier Zumutung

Dienstag Deniz Yücel Besser

Mittwoch Martin Reichert Erwachsen

Noch smarter im Umgang mit Privatem gibt sich Ole von Beust. Zwei Jahre nach seinem Rücktritt als Erster Bürgermeister Hamburgs im Jahr 2010 sagte er der BamS, nie habe er aus Sorge vor Nachteilen bei Wahlen seine Homosexualität verschwiegen: „Ich habe ja mein schwules Leben nie geheim gelebt.“ Wäre er in einem Interview dazu befragt worden, sagte er, hätte er es nicht geleugnet. Ja, so sind sie, die Medien: interessieren sich viel zu wenig für Klatsch.

Die Cleverste aber ist Angela Merkel. Im Bundestagswahlkampf druckte die CDU menschelnde Broschüren. Unter dem Stichwort „Natur“ ist die Kanzlerin an einem Seeufer unter einem Baum zu sehen, dazu der Satz: „Ich bin eine leidenschaftliche Gärtnerin und ziehe mein eigenes Gemüse.“ Eine mit Perwoll gewaschene Werbeagenturidylle, die dreisterweise behauptet, eine Kanzlerin habe ein nennenswertes Privatleben. Als ich das sah, wünschte ich, Politiker stünden unter geringerem Druck, sich als Privatmensch zu inszenieren. Nicht zu ihrem Schutz. Sondern zu meinem.