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Archiv-Artikel

„Gewerkschaften sind immer noch defensiv“

Der Bochumer Sozialforscher Klaus Kraemer fordert Lohnzuwächse auch für prekär Beschäftigte und Zeitarbeiter

KLAUS KRAEMER, Jahrgang 1962. Soziologe am Forschungsinstitut Arbeit, Bildung, Partizipation der Ruhr-Universität Bochum.

taz: Herr Kraemer, die jüngsten Tarifabschlüsse haben Lohnzuwächse gebracht. Sind die Gewerkschaften nach langer Krise in der Offensive?

Klaus Kraemer: Nein, die Gewerkschaften sind immer noch in der Defensive. Die Abschlüsse etwa in der Metallindustrie bewegen sich im Rahmen des Erwartbaren. Angesichts der Konjunkturlage war es klar, dass die IG Metall einen ganz guten Abschluss erzielt. Leider machen die Gewerkschaften vor allem Tarifpolitik für die Stammbelegschaften.

Also kommen die Lohnerhöhungen nicht bei allen Arbeitnehmern an?

Die Stammbelegschaften der Firmen, für die Abschlüsse gelten, schrumpfen seit Jahren. Nur noch 60 bis 65 Prozent der Beschäftigten haben einen regulären Dauerarbeitsplatz. Der Rest sind immer mehr atypisch und prekär Beschäftigte, darunter zunehmend Leih- und Zeitarbeiter. Die haben eigene Tarifverträge und Entgelte – auf deutlich niedrigerem Niveau als die Stammbelegschaft. Die Gewerkschaft muss diesen Sektor stärker tarifpolitisch gestalten. Nötig ist eine Qualifizierungsoffensive, um Menschen für bessere Jobs fit zu machen. Da gibt es in der Chemie- und Metall-Branche bereits wegweisende Tarifabschlüsse für berufliche Qualifizierungen, aber die müssen auch mit Leben erfüllt werden.

Könnte es Strategie sein, dass sich die Gewerkschaften vor allem um die Stammbelegschaften kümmern?

Nein, das wäre fatal. In den Gewerkschaften läuft inzwischen ein Umdenkungsprozess. In kleinen Schritten, aber Gewerkschafter wie Detlef Wetzel sehen dieses Problem durchaus. Vor Ort in den Betrieben ist es jedoch oft noch so, dass die Arbeitnehmervertreter sich schwerpunktmäßig nur für die Kernbelegschaft einsetzen.

Warum ist das so?

Interessen von Stamm- und Prekär-Beschäftigten sind nicht identisch. Der DGB hat aber ein Interesse, sich um beide Gruppen zu kümmern – auch um Lohndumping zu vermeiden.

Wie?

Die DGB-Aktion für einen gesetzlichen Mindestlohn geht in die richtige Richtung. Tarif- und Lohnpolitik muss auch die Interessen der schlechter Bezahlten berücksichtigen, die bei den Arbeitgebern wegen ihrer Flexibilität immer beliebter werden. Inzwischen gibt es bundesweit schon etwa 1,4 Millionen Leiharbeiter. Flexibilität darf aber keine Einbahnstraße sein. Allein schon deswegen sind deutliche Lohnzuwächse gerade für diese Beschäftigten notwendig.

INTERVIEW: MARTIN TEIGELER