: Wirklich clever, das Mädchen
Warum alle Welt dazu neigt, selbst die Allerdümmsten für insgeheim schlau zu halten – Paris Hilton beispielsweise
Zwei Pritschen übereinander, auf denen dünne, grüne Matratzen liegen. An der Wand sind ein Schemel und eine Schreibplatte verschraubt. Weiteres Mobiliar: Waschbecken und Toilettenschüssel aus Edelstahl. Keine Boulevardsendung kam in den letzten Tagen ohne Aufnahmen der Zelle in einem US-Frauengefängnis aus, die angeblich jener gleichen soll, in der Hotelerbin Paris Hilton demnächst 45 Tage verbringen muss. Wegen mehrmaligen Fahrens ohne Führerschein.
Es hat sich eingebürgert, Frau Hilton für klug zu halten. Man müsse einfach clever sein, um so unfassbar dumm zu wirken. Ähnliches ist auch schon über Verona Pooth, geborene Feldbusch, gesagt worden. Und über Claudia Schiffer.
Die täglichen Kolumnen von Franz Josef Wagner in der Bild-Zeitung halten viele für Kult, weil sie eine verborgene Ironie darin zu entdecken meinen. Stefan Raab – das ist der mit den Namenswitzen – soll in Wahrheit auch nicht blöd sein, sondern ein ganz ernsthafter Musikproduzent und überhaupt erheblich klüger als man denkt. In Oliver Kahn wollen manche Journalisten ebenfalls Tiefgründigeres entdeckt haben, als das breite Publikum ihm gemeinhin zutraut. Er selbst findet allerdings, dass seine Fähigkeit zur Selbstironie überschätzt werde: „Glaubt ja keiner, dass diese Komponente stark in mir verankert ist.“
Doch, doch. Das glauben bestimmt viele. Es scheint leichter zu fallen, jemandem Charaktereigenschaften zuzubilligen, für die es nicht den geringsten Anhaltspunkt gibt, als das Offensichtliche für möglich zu halten.
Erinnern Sie sich? Das war schon in der Schule so. Es musste jemand nur borniert, arrogant und unfreundlich genug sein – dann fanden sich einfühlsame Seelen, die meinten, dieses Verhalten solle gewiss Unsicherheit und eine ganz besondere Sensibilität überdecken.
Von wegen. Jedes Klassentreffen belehrt uns eines Besseren. Falls man denn nicht glauben will, dass der mittlerweile 30-, 40- oder 50-jährige arrogante, unfreundliche Stinkstiefel immer noch so unsicher ist wie weiland als 17-Jähriger.
Wenn es um ehemalige Klassenkameraden geht, lassen sich die meisten Leute ja noch davon überzeugen, dass sie das stille Wasser oder den einsamen Wolf früher überschätzt haben. Aber Paris Hilton wird vermutlich auch nach ihrem Auftritt vor Gericht weiterhin als raffinierte Geschäftsfrau gelten.
Sie hat übrigens gegen ihre Verurteilung nicht nur Berufung eingelegt, sondern sich außerdem sofort von ihrem Pressesprecher getrennt. Der soll der 26-Jährigen nämlich versichert haben, sie dürfe auch ohne Führerschein weiterhin Auto fahren, so lange sie aus beruflichen Gründen hinter dem Steuer sitze. Wirklich clever, das Mädchen.
Die Schadenfreude stand Reportern und Moderatoren ins Gesicht geschrieben, als sie über den Fall berichteten. Selbst CNN-Talker Larry King, dessen Erfolgsrezept eigentlich in weltumspannender Freundlichkeit und grenzenlosem Verständnis für alle besteht – der also sozusagen der Johannes B. Kerner der USA ist –, freute sich öffentlich mit.
Aber die Sehnsucht nach Geheimnissen einer Persönlichkeit, Doppelbödigkeit eines Charakters und Erkenntnis verborgener Größe sitzt zu tief, als dass die Realität dagegen eine Chance hätte. Paris Hilton ist klug, und ganz bestimmt findet sich auch jemand, der Dieter Bohlen für gut erzogen hält. Oder für eine Instanz im Hinblick auf die Menschenwürde.
Der unbeirrbare Glaube an versteckte Qualitäten ist für einige Leute das größte, wenn nicht sogar das einzige Kapital. Man stelle sich vor, das öffentliche Urteil orientiere sich nur an dem, was bekannt, nachprüfbar und zu Protokoll gegeben ist. Wie stünde dann CSU-Generalsekretär Markus Söder da? Oder der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle?
BETTINA GAUS über FERNSEHEN
Ist Paris eine Reise wert? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN