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Archiv-Artikel

Warum?

Ein Fassadenkletterer und Stuntman stürzt am 23. Oktober 2006 vom Dach eines „Selbstmörderhochhauses“ in Berlin. Einen Abschiedsbrief hinterlässt er nicht. Aber eine Mutter mit vielen Fragen

AUS FREDERSDORF BARBARA BOLLWAHN

Am 20. Oktober 2006 besucht Annelie Kaufmann ihren Sohn Stephan im Unfallkrankenhaus Berlin-Marzahn. Der 33-Jährige hat sich als Stuntman in der Westernstadt „El Dorado“ in Templin verletzt. Bei einer Cowboy-und-Indianer-Show verpasste er den Absprung von einem Saloondach. Er ist auf eine Gewehrattrappe gefallen und hat sich das rechte Handgelenk gebrochen. Seine Mutter weiß, dass er Angst hat, dass die Hand vielleicht nicht wieder hundertprozentig einsatzfähig sein wird. Die Ärzte sagen, dass die Chancen gut stehen. Der Sohn freut sich über ihren Besuch. Der Mutter fällt auf, dass er sich mehr als sonst freut, sie zu sehen. Aber er wirkt auch bedrückt, abwesend.

Sie gehen auf dem Klinikgelände spazieren, essen Eis, sprechen miteinander. Sie will wissen, was mit ihm los ist. „Du kannst mir alles sagen. Du musst mich nicht schonen.“ Wirklich schockieren kann sie nichts. Ihr Sohn ist ein trainierter Kickboxer mit Tätowierungen von einem roten Fisch, einem Teufel, einem Drachenkopf, einer Frau und Blumen und einem Kapuzenkopf auf Ober- und Unterarmen und Brust. Mit 16 Jahren wurde er das erste Mal wegen gefährlichen Körperverletzung verwarnt. Es folgten Wiedergutmachungsauflagen, Geld- und Bewährungsstrafen und weitere Vergehen. Einige Jahre hat er als Türsteher gearbeitet und war Anhänger des BFC Berlin, des früheren Ostberliner Dynamo-Sportclubs, der eine besondere Förderung durch den Chef der Staatssicherheit, Erich Mielke, genossen hat. Er gehörte der Hooliganszene an. Ein harter Kerl, der austeilt und einsteckt.

Im Krankenhaus weint er. Die Mutter will wissen, was ihn bedrückt. Ihr Sohn erzählt ihr schließlich von einer Gefängnisstrafe, die er ihr bisher verschwiegen hat. Bis zum März 2003 saß er wegen gefährlicher Körperverletzung acht Monate in Haft. Unter Tränen spricht er über seine Angst vor einem bevorstehenden zweiten Gefängnisaufenthalt. Weil er gegen vier Polizeibeamte, die am 18. Mai 2003 morgens um fünf einen Vorführungsbefehl der Amtsanwaltschaft vollstrecken wollten, Widerstand geleistet hatte, muss er sieben Monate ins Gefängnis. Wegen einer Theaterprobe hatte er einen Termin für eine Zeugenaussage verpasst und sollte nun vorgeführt werden.

Stephan Kaufmann, der gelernte Stahlbetonbauer, hatte sich nach seiner Haft aus der Türsteher- und Hooliganszene zurückgezogen, einen Höhenarbeiterschein erworben und als selbstständiger Industriekletterer gearbeitet.

Der gut aussehende junge Mann spielte als Statist im Film „Stalingrad“ mit, wurde für eine Werbeaktion „Die Stadt bin ich“ des Berliner Stadtmagazins zitty fotografiert und fand Zugang zum Theater. In dem Musical „Adam Schaf hat Angst oder Das Lied vom Ende“ von Georg Kreisler, das am Berliner Ensemble aufgeführt wurde, stand er mit einem anderen Boxer auf der Bühne. In den Gesangspausen lieferten sie sich einen Boxkampf als Parabel auf das Leben. An diesem Tag im Mai, als die Polizei vor seiner Wohnungstür in Berlin stand, wollte er nach Wien fliegen. Um bei einer Aufführung von „Adam Schaf hat Angst“ zu boxen. Als ihn die Polizei mitnehmen wollte, rastete er aus.

Die Mutter spürt, dass ihn noch etwas anderes belastet als das Gefängnis. „Du musst mir nichts verheimlichen“, drängt sie. Aber er hat ihr nichts weiter zu sagen. Nach drei Stunden verabschieden sie sich. Sobald er aus dem Krankenhaus entlassen wird, haben sie beschlossen, wollen sie zusammen Ordnung in seine Papiere und in sein Leben bringen, bevor er ins Gefängnis muss. Zum Abschied sagt sie, dass sie stolz auf ihn ist.

Es ist dunkel, als sie die etwa 30 Kilometer nach Hause fährt, nach Fredersdorf. Ein kleiner Ort mit 12.000 Einwohnern in Märkisch-Oderland östlich von Berlin, wo sie mit ihrem Mann in einem Einfamilienhaus lebt, in dem sie ein Wollgeschäft betreibt. Während der Fahrt macht sich ein seltsames Gefühl im Auto breit. „Das war es jetzt?“, fragt sie sich immer wieder. Sicher ist sie in ihrer Unsicherheit nur in einem Punkt: „Er hat mir etwas vorenthalten.“ Nur: Was? Am liebsten wäre sie umgekehrt. Aber sie sitzt nur ungern im Dunkeln am Steuer. Außerdem muss sie am nächsten Morgen ausgeschlafen sein. Für die Steuererklärung, die sie für ihr Wollgeschäft machen muss. Für ihren Mann, der an Alzheimer leidet.

Drei Tage später ist Stephan Kaufmann tot. Am Montag, dem 23. Oktober 2006, liegt er mit einem Schädelbruch, einem gebrochenen Fußgelenk, Rippenbrüchen und einem Beckenbruch vor einem 18-stöckigen Hochhaus in der Dolgenseestraße in Berlin-Lichtenberg. Stephan Kaufmann, der seinen Lebensunterhalt als Stuntman und Fassadenkletterer in der Höhe verdiente, fand in der Tiefe den Tod.

Zwei Hausmeister entdecken den Körper gegen 14.30 Uhr. Der herbeigerufene Notarzt führt ein EKG durch, bei dem er noch „leichte Aktivitäten“ feststellt, wie er im Leichenbericht vermerkt. Äußere Lebenszeichen stellt er am noch warmen Leichnam nicht fest. „Aufgrund der mit dem Leben nicht vereinbaren Verletzungen“, steht in dem Bericht, „wurde auf Reanimationsmaßnahmen verzichtet.“ Der Arzt stellt einen nicht natürlichen Tod fest.

Weil sich keine Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden ergeben, wird keine Obduktion angeregt. Stephan Kaufmann ist schon acht Stunden tot, als seine Mutter einen Anruf aus der Klinik bekommt. Man sagt ihr, dass ihr Sohn sein Zimmer morgens gegen 8.30 Uhr verlassen habe und nicht zurückgekehrt sei. Sie macht sich keine wirklichen Sorgen. Sie glaubt, dass er sich gelangweilt habe und möglicherweise Freunde getroffen hat. Anderthalb Stunden später, gegen Mitternacht, klingelt es an ihrer Haustür. Vor der Tür stehen zwei Polizeibeamte in Zivil. Sie überbringen die Nachricht, dass ihr Sohn von einem Hochhaus gesprungen ist, das als „Selbstmörderhaus“ bekannt sei. Bevor sie überhaupt realisiert, was passiert ist, wird sie nach möglichen Gründen gefragt. Sie erzählt von den Existenzängsten ihres Sohnes und einem bevorstehenden Haftantritt. Als die Beamten wieder gehen, bleibt Annelie Kaufmann mit einem Informationsblatt für Angehörige zurück. Und mit dem Schock über den unerklärbaren Verlust ihres einzigen Kindes.

Zwischen 11.000 und 12.000 Menschen nehmen sich jedes Jahr in Deutschland das Leben. Das entspricht 1,3 Prozent aller Todesfälle. Dazu kommt eine Dunkelziffer sogenannter versteckter Selbstmorde: Menschen, die in der Absicht, ihrem Leben ein Ende zu bereiten, in ihren Wagen steigen oder eine Überdosis Drogen nehmen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wählt etwa die Hälfte der Selbstmörder den Tod durch Erhängen oder Ersticken. Zehn Prozent springen in die Tiefe, so wie Stephan Kaufmann. Hinterlassen sie kein Wort der Erklärung, kommt zum schmerzvollen Verlust eine quälende Ungewissheit.

Zwei Tage nach dem Tod von Stephan Kaufmann wird seine Leiche zur Beerdigung freigegeben. Zur gleichen Zeit werden auch die Ermittlungen eingestellt. Für die Behörden gibt es keinen Zweifel an dem Selbstmord. Auf dem Friedhof in Fredersdorf erinnert ein Grabstein mit fünf Buchstaben und zwei Jahreszahlen an ihn: „Kaufi 1973 – 2006“. Zur Beerdigung kommen etwa hundert Freunde – Stephan war beliebt, stand oft im Mittelpunkt. Die Mutter hat ein Lied ausgewählt, das ihm viel bedeutete. „Dieser Weg“ von Xavier Naidoo, mit dem sich die deutsche Fußballmannschaft zur WM Mut gemacht hat. „Dieser Weg wird kein leichter sein. Dieser Weg wird steinig und schwer. Nicht mit vielen wirst du dir einig sein. Doch dieses Leben bietet so viel mehr.“

Annelie Kaufmann, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und große silberne Ringe in den Ohren, will über den Tod ihres Sohnes sprechen. Sie hat den Kontakt zur Presse gesucht. Weil es ihr hilft. Weil sie anderen Angehörigen sagen will, dass sie nicht allein sind mit ihren Fragen. Die 56-Jährige entschuldigt sich für die Unordnung im Haus. Es ist viel liegengeblieben seit dem 23. Oktober. Außerdem muss sie sich um ihren alzheimerkranken Mann kümmern, der sich immer weniger in seinem Leben zurechtfindet. Und um ihr Wollgeschäft mit den Strickrunden, zu denen sie sich jede Woche aufrafft, damit sie sich nicht in ihrem Kummer verkriecht. Zu guter Letzt leidet sie unter den Wechseljahren. Ein beschissenes Alter, wie sie es nennt.

Es tut so weh, dass ich es nicht verhindern konnte“, sagt sie und blättert in Fotoalben. Auf die Rückseite eines Bildes, das ihren Sohn in einem russischen Soldatenmantel und mit blutverschmiertem Gesicht als Statisten in dem Film „Stalingrad“ zeigt, hat er geschrieben: „Meine Gedanken sind immer bei Dir, meiner geliebten Mutti“. Zu dieser Zeit, erzählt Annelie Kaufmann, hätten sie und ihr Sohn wieder zueinander gefunden. Auch wenn sie sich manchmal monatelang nicht gesehen hätten, sei das Verhältnis sehr innig gewesen. „Wenn er sich nicht meldet, geht’s ihm gut.“ Solche Sätze bekommen jetzt, wo er nicht mehr lebt, einen kaum zu ertragenden Klang für die Mutter. Annelie Kaufmann lacht laut auf. Lieber würde sie schreien.

Das Wort „Selbstmord“ umgeht sie. Sie sagt „es“ oder „das“. Sie ist hin- und hergerissen zwischen Verzweiflung, Ohnmacht, Schuldgefühlen, Verdächtigungen und Wut. Ihr Sohn hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Das macht die Suche nach einer Erklärung so schwer. Hat sie ihren Sohn wirklich gekannt oder nur einen Teil von ihm? Ist er vielleicht nicht von dem Hochhaus gesprungen, sondern wurde von jemandem hinuntergestoßen? Hat er nicht wenige Tage vor seinem Tod diesen seltsamen Satz gesagt „Die wollen uns fertigmachen“? Haben Polizei und Staatsanwaltschaft wirklich gründlich genug ermittelt, um ein Fremdverschulden auszuschließen? Bei ihren telefonischen und schriftlichen Nachfragen bei den Behörden fühlt sie sich „wie ein lästiges Übel“, das man abwimmelt. Beruhigend ist das nicht.

Sie fährt in die Westernstadt „El Dorado“ und spricht mit Kollegen und Freunden. Doch Antworten findet sie nicht. Sie macht sich auf den Weg zu dem Hochhaus nach Lichtenberg und verfasst ein Flugblatt. „Zeugen gesucht“ steht neben einem Foto ihres Sohnes, auf dem er offen und sympathisch in die Kamera lacht. „Am 23. Oktober 2006 stürzte mein Sohn Stephan Kaufmann vermutlich vom Haus der Dolgenseestraße 43“, schreibt sie. „Die Polizei geht davon aus, dass es Selbstmord war, und hat wahrscheinlich deshalb keine weiteren Ermittlungen unternommen. Da es keinen Abschiedsbrief gibt und ich Zweifel daran habe, dass er so einen Schritt getan hat, bin ich gezwungen, eigene Ermittlungen zu unternehmen.“ Die Mutter fragt, wer Hinweise liefern kann. Unterschrieben hat sie mit „Vielen Dank, die Mutti“. Bei dem Netzanbieter des Handys ihres Sohnes fordert sie Listen mit den Gesprächen der letzten Tage an. Sie wählt die Nummern, die er gewählt hat, in der Hoffnung, den Ansatz einer Erklärung zu finden. Doch die Freunde, Bekannten und Kollegen können nur ihr Beileid aussprechen.

Sie fährt in die Wohnung ihres Sohnes, um einige Sachen von ihm und seinen alten Teddy zu holen. Da fällt ihr auf, dass er in den letzten Monaten vor seinem Tod fast täglich Zahlungsaufforderungen oder Mahnungen in seinem Briefkasten hatte. „Er hätte seine Schulden peu à peu abzahlen können“, ist sie überzeugt. Vorsichtshalber hat sie aber das Erbe ausgeschlagen.

Annelie Kaufmann sitzt auf ihrem Sofa und versucht, das Durcheinander in ihrem Kopf zu ordnen. Hätte sie strenger mit ihrem Sohn sein, ihm mehr Vorhaltungen machen sollen? Hat er es nicht trotzdem geschafft, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen? „Ich sagte ihm immer, du musst deinen Weg selber finden. Das ist besser, als hinterherzurennen, Stullen zu schmieren und Socken zu stopfen.“ Wieder lacht sie dieses laute Lachen. „Es war doch immer was los“, sagt sie plötzlich mit leiser Stimme. „Wie bei Felix.“

Gemeint ist Felix S., dem die Journalistin Jana Simon mit ihrem Buch „Denn wir sind anders“ eine Art Denkmal gesetzt hat. Darin beschreibt sie einen einerseits gewalttätigen und andererseits liebenswerten jungen Mann, der in der DDR geboren ist und im wiedervereinigten Deutschland nirgendwo seinen Platz findet. Es gibt viele Parallelen zwischen Felix S. und Stephan Kaufmann. Beide sind in der DDR aufgewachsen. Beide trainierten im „Boxtempel“ in Berlin-Weißensee, wo sie sich gegenseitig abgeklatscht haben. Beide waren Kickboxmeister und in der Berliner Kampfsportszene bekannt. Beide sahen in Bruce Lee ihr Vorbild. Beide verdienten ihr Geld als Türsteher, drifteten in die Hooliganszene ab, waren immer wieder in Schlägereien verwickelt und wurden verurteilt. Beide hatten Probleme mit einer gebrochenen Hand und immer wieder mit Geld. Eine weitere Gemeinsamkeit der beiden, die keine Freunde, aber miteinander bekannt waren, ist ihr Ende: Felix S. erhängte sich 2001 im Alter von 31 Jahren in der Untersuchungshaft in Berlin. Stephan Kaufmann sprang mit 33 Jahren in den Tod.

Jana Simons Buch hat Annelie Kaufmann gelesen. „Jetzt können sie sich beide wieder abklatschen“, sagt sie und kämpft mit den Tränen. Das Buch bestärkt sie in ihrer Überzeugung, dass die Suche nach dem Platz im Leben für junge Menschen immer schwerer wird, dass Konkurrenzdenken und der Einsatz von Ellenbogen keine guten Voraussetzungen sind. „Wer heute keine Existenzangst kriegt, tickt nicht richtig“, sagt sie. Zum ersten Mal benutzt sie das Wort „Selbstmord“. „Wenn es wirklich Selbstmord war, dann ist Stephan an der Gesellschaft zerbrochen.“

Im Unterschied zu Felix S. lebte ihr Sohn bereits seit 1986 im Westen. Die Kaufmanns waren mit ihrem damals 13-jährigen Jungen ausgereist. Damit die Umstellung nicht zu schwer werden sollte, zogen sie von ihrem Ostberliner Stadtteil Lichtenberg in das Westberliner Neubaugebiet Märkisches Viertel. Doch Stephan Kaufmann gewöhnte sich nur schwer ein. Er prügelte sich mit türkischen Jugendlichen, begann mit Karate. Zwischen 14 und 18, erzählt die Mutter, war es besonders schlimm. „Wir konnten nicht miteinander reden. Er meinte, sich behaupten zu müssen.“ Weil Stephan in der Schule nicht genug lernte, verbot sie ihm den Sport. Heute fragt sie sich, ob das ein Fehler war, ob er mit dem Sport ohne Waffen in den Händen vielleicht einen Halt gefunden hätte. Das Hochhaus, von dem er gesprungen ist, liegt nur wenige Kilometer von der Wohnung entfernt, wo er bis zu seiner Übersiedelung nach Westberlin gelebt hat.

Fehlt ein Abschiedsbrief, gewinnt die Frage „Was wäre wenn?“ an Bedeutung, ohne eine Hilfe zu sein. Annelie Kaufmann fragt sich auch, was gewesen wäre, hätte ihr Sohn nicht wieder ins Gefängnis gemusst. Nach einer Revision der Staatsanwaltschaft war die Bewährung für die Haftstrafe aufgehoben worden. In dem Urteil des Landgerichts heißt es, dass allein der Ausstieg aus seinem früheren Umfeld noch nicht die Erwartung zulasse, dass er künftig keine neuen Gewalttaten begehen werde. Auch die Tatsache, dass er die letzten drei Jahre nicht straffällig geworden ist, lasse „eine günstige Legalprognose nicht nachvollziehbar erscheinen“.

Annelie Kaufmann will Klarheit über die Umstände des Todes ihres Sohnes. Sie legt Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen ein. Für sie gibt es zu viele Widersprüche. Zum Beispiel der Ledergürtel, den der Sohn trug. Nach Angaben des Kriminalkommissars, der vor Ort war, ist der Gürtel am achten Loch abgerissen. Der Notarzt dagegen protokolliert, dass der Gürtel neben der Schnalle „sauber durchgetrennt“ ist. Er weist in seinem Bericht auf ein Hämatom hin, auf das in der Leichenbesichtigung der Polizei nicht eingegangen wird. Zudem kritisiert der Anwalt, dass die Polizei neun Stunden brauchte, um die Mutter über den Tod ihres Sohnes zu informieren und der Ermittlungsaufwand „deutlich unter dem Niveau ist“, das bei einem unnatürlichen Todesfall geboten sei. Die Generalstaatsanwaltschaft prüft aufgrund der Beschwerde den Vorgang erneut. Ende März dieses Jahres teilt ihr die Behörde die Bestätigung der Einstellung mit. „Wenn es, wie hier, keine Anhaltspunkte für Feinde des Verstorbenen, die ihm nach dem Leben trachteten, gibt, ist auch nichts zu ermitteln.“

Der Pressesprecher der Berliner Staatsanwaltschaft, Michael Grunwald, kann verstehen, dass sich Angehörige mehr von den Ermittlungen erhoffen. „Aber wir sind weder in der Lage noch gesetzlich befugt, einen Selbstmord unzweifelhaft nachzuweisen“, sagt er. „Wenn keine Anhaltspunkte für Fremdverschulden vorliegen, muss das Verfahren eingestellt werden.“ Die vollkommene Aufklärung eines Suizids sei nicht Aufgabe der Staatsanwaltschaft.

Zwischen den Familienfotoalben findet Annelie Kaufmann ein Büchlein mit Texten aus „Adam Schaf hat Angst oder Das Lied vom Ende“. Darin heißt es: „Ja, das Bier wird teurer, das Papier wird teurer, haben Politiker uns jetzt erklärt. Auch das Öl wird teurer und das Mehl wird teurer. Nur der Mensch ist nach wie vor nichts wert.“ Sie kämpft mit den Tränen. Bei der Premiere saß sie im Berliner Ensemble im Publikum. Sie war so stolz, dass ihr Sohn eine sinnvolle Verwendung für seine Fäuste gefunden hatte. Stephan Kaufmann wollte sich durchboxen. Er hat es nicht geschafft.

BARBARA BOLLWAHN, 43, ist taz-Reporterin. Sie schrieb bereits am 27. September 1997 im allerersten taz.mag die Ost-West-Titelgeschichte „Es gibt kein Zurück“