: „In China kann alles heikel sein“
VERSCHLEPPUNG Wo ist Ai Weiwei? Diese Frage ist leider immer noch aktuell. Was sagt das über Chinas Rechtssystem? Ein Gespräch mit Donald C. Clarke
■ 51, ist Professor an der Law School der George Washington University in den USA und zählt zu den besten Kennern der chinesischen Rechtsentwicklung. Der Kanadier beschäftigt sich seit seinem Studium in China in den siebziger Jahren mit der Justiz in der Volksrepublik und ist Verfasser zahlreicher Publikationen zum Thema. In seinem Blog (lawprofessors.typepad.com) kommentiert er aktuelle Fälle.
INTERVIEW JUTTA LIETSCH
taz: Herr Clarke, der chinesische Künstler Ai Weiwei wird seit über zwei Monaten ohne Kontakt zu seinem Anwalt von der chinesischen Polizei festgehalten. Die Pekinger Regierung erklärt, dies sei nach chinesischem Gesetz rechtmäßig. Ist das richtig?
Donald C. Clarke: Das chinesische Gesetz ist relativ dehnbar, vor allem, was Verdächtige in Kriminalfällen betrifft. Aber es ist nicht unendlich elastisch. Im Fall von Ai Weiwei wäre ein Verfahren denkbar, das es erlaubt, ihn so lange Zeit ohne Anklage festzuhalten. Es nennt sich „überwachtes Wohnen“.
Müsste er dann nicht in seinem eigenen Haus festgehalten werden?
Ja, deshalb passt diese Kategorie eigentlich nicht. Gemeint ist der eigene Wohnsitz, der auch für andere Personen zugänglich ist, und nicht irgendein „Gästehaus“ der Polizei mit Gittern vor den Fenstern und einer Wache vor der Tür. Es gibt sogar ein Dokument des Polizeiministeriums, das diese Art missbräuchlicher Interpretation von „überwachtem Wohnen“ verbietet.
China hat viele neue Gesetze, gut ausgebildete Anwälte und viele Gerichtsprozesse. Zeigt das nicht, dass sich das Rechtssystem in den vergangenen dreißig Jahren verbessert hat?
Gut ausgebildete Richter und gut formulierte Gesetze können helfen, besser zu regieren. Das nützt in der Regel allen, auch gewöhnlichen Bürgern. Deshalb kann man ganz sicher davon sprechen, dass sich die Situation verbessert hat.
Kann man daraus folgern, dass China auf dem Weg zu einem Rechtssystem ist, in dem die Politiker nicht mehr unbegrenzte Macht über die Bürger haben?
Diese Entwicklung sehe ich nicht. Wenn zum Beispiel der Ständige Ausschuss des Politbüros …
… die neun mächtigsten Männer Chinas …
… entscheidet, dass jemand festgenommen wird, werden dann rechtliche Maßstäbe für die tatsächliche Festnahme ein stärkeres Gewicht haben als vor zwanzig Jahren? Ich kann das nicht erkennen. Das heißt nicht, dass sich in Chinas Rechtssystem nichts Interessantes oder Wichtiges oder Wertvolles tut. Es bedeutet nur, dass wir nicht jede Verbesserung als einen Schritt hin zu einer Regierung sehen sollten, deren Macht begrenzt ist.
Nach Ansicht vieler Juristen ist Chinas Rechtssystem schon ziemlich gut, ausgenommen heikle Fälle. Was macht einen Fall heikel? Gibt es eine Art rote Linie?
Wenn man „heikel“ als „politischer Einwirkung unterworfen“ definiert, dann gibt es keinen Unterschied zwischen heiklen und nicht heiklen Fällen im chinesischen Recht selbst. Aus Erfahrung wissen wir aber, dass Aufrufe zum Sturz der Kommunistischen Partei mit größter Sicherheit heikel sind, Wirtschafts- oder Verkehrskonflikte weniger. Allerdings kann sich ein gewöhnlicher Autounfall unter gewissen Umständen als heikel erweisen. Ein gutes Beispiel dafür ist ein Fall, der als „Mein Vater ist Li Gang“ bekannt wurde.
Ein junger Mann überfuhr mit seinem Auto eine Frau und rief den Umstehenden zu, man könne ihm nichts anhaben, weil sein Vater Li Gang ein hoher örtlicher Funktionär sei.
Aus dem Autounfall wurde deshalb ein heikler Fall, weil sich der Zorn der Öffentlichkeit über anmaßende Funktionäre und ihre Sprösslinge daran entfachte. Die Regierung reagierte besorgt und ließ die Berichterstattung in den Medien strikt kontrollieren. Ich wäre sehr erstaunt, wenn das Urteil des Richters in dem Prozess ohne Einmischung von Außen zustande käme. Sobald sich ein mächtiger Funktionär aus irgendeinem Grund für einen Fall interessiert, gibt es immer Hebel, ihn zu beeinflussen.
In China wird häufig vom Aufbau eines Rechtssystems „chinesischer Prägung“ gesprochen, das der Kultur und den Traditionen Chinas entspricht und nicht vom Westen kopiert ist. Was ist damit gemeint?
Jedes Rechtssystem in China kann – aktuell und in Zukunft – nichts anderes sein als ein Rechtssystem chinesischer Prägung. Wer dies allerdings immer wieder laut beschwört, will nur von anderen Dingen ablenken. Wie jedermann weiß und auch niemand leugnet, sind wesentliche Elemente des gegenwärtigen chinesischen Rechtssystems vom Westen und vor allem von Deutschland inspiriert. Westlich ist die gesamte Idee eines Einparteiensystems, das sich dem Marxismus verschreibt. Also offenkundig hat niemand in der Regierung ein Problem mit westlichen Modellen an sich. Ebenso offenkundig ist es, dass es nichts in China geben wird, was eine exakte Kopie westlicher Vorbilder wäre.
Es ist also zu spät, westliche Vorbilder abzulehnen?
Kulturen ändern sich, und die chinesische Kultur ist da keine Ausnahme. Ich halte die ganze Debatte darüber, ob etwas den chinesischen Traditionen entspricht, für reine Zeitverschwendung, weil es am Ende doch nur darum geht, ob man etwas mag oder nicht. Interessanterweise scheint die Regierung die Haltung einzunehmen, dass man sagen kann, etwas entspricht der Tradition, und das bedeutet dann, es ist gut. Das wirkt etwas seltsam angesichts der vielen chinesischen Traditionen, die die Regierung sicher nicht unterstützt: zum Beispiel das Binden der Füße der Frauen, die Polygamie, den Tod durch langsames Zerstückeln oder die Sklaverei. Was Regierungsfunktionäre meinen, wenn sie von einem Rechtssystem „chinesischer Prägung“ sprechen, ist meiner Ansicht nach nichts anderes als ein Rechtssystem, wie sie es sich wünschen. Die chinesische Tradition dient nur als Rechtfertigung nach außen.
Was bedeutet das alles für Ai Weiwei und die anderen, die immer noch irgendwo festgehalten werden?
Bei der Entscheidung über ihr Schicksal werden rechtliche Normen wohl kaum eine wichtige Rolle spielen. Ai Weiwei ist viel zu prominent, als dass sein Fall anders als politisch gelöst werden könnte. Man müsste extrem naiv sein, etwas anderes zu erwarten.