: Schlafen unter uralten Dschungelriesen
DORFTOURISMUS Ob im Amazonasbecken oder in den Anden – Boliviens Indígenas hoffen auf das touristische Zubrot
■ Projekt: La Red Tusoco (Red Boliviana de Turismo Solidario Comutario) ist ein bolivianisches Netzwerk für einen solidarischen, gemeindebasierten Tourismus. www.tusoco.com
■ ProgettoMondo Mlal, eine italienische Nichtregierungsorganisation, die seit 35 Jahren in Lateinamerika und Afrika tätig ist, berät das Tusoco-Netzwerk seit 2010 im Rahmen eines von der EU geförderten Projekts. www.progettomondomlal.org
■ Literatur: Thomas Pampuch, Agustin Echalar: „Bolivien“. Ch. Beck Verlag, 2009, 200 S., 12,95 Euro; Katharina Nickoleit: „Bolivien kompakt“. Reise Know-How, 252 S., 19,90 Euro; Geo Spezial: „Peru und Bolivien“, 5/2010, 15,90 Euro; Hella Braune, Frank Semper: „Bolivien Reisekompass“. 520 S., 23,90 Euro.
■ Anreise: Kein Direktflug, KLM, Iberia, Lufthansa fliegen nach La Paz mit Zwischenstopp in Lima.
■ Atmosfair: Für Hin- und Rückflug nach Bolivien entstehen pro Person klimarelevante Emissionen von etwa 8.380 Kilo. Diese verursachten Klimagase kann man mit einem freiwilligen Beitrag – laut Emissionsrechner 194 Euro –, die an Klimaschutzprojekte in Entwicklungsländern gehen, „kompensieren“. www.atmosfair.de
■ Veranstalter: Touren und Aufenthalte bei Partnern des Tusoco-Netzwerks kann man buchen bei Tuscoco Viajes. viagjes@tusoco.com, www.tusoco.com
■ Veranstalter des forum anders reisen wie Papaya Tours (www.papayatours.de), viventura (www.viventura.de) oder Alaska Peru Tours (www.alaskaperutours.com) haben Bolivien im Programm, meist als Rundreise in Kombination mit Peru und Chile.
■ Der Lateinamerika-Veranstalter América Andina bietet einen „Reisebaustein Rurrenabaque“: drei Tage in der Ökolodge Chalalán, die im Besitz einer einheimischen Gemeinde ist und zum Netzwerk Tusoco gehört. www.america-andina.de
VON GÜNTER ERMLICH
Nichts tut Francisco Caimani lieber, als die amigos visitantes durch den tropischen Regenwald zu führen. Hier im Nationalpark Madidi, im Amazonasbecken von Bolivien, kennt der 59-jährige Medizinmann jeden Baum, jede Pflanze, jedes Tier. Mit der Machete schlägt er die zugewachsenen Stellen des Wegs frei, während feiner Regen auf das Dschungeldach tropft, irgendwo da oben ein Papagei schreit und wir versuchen, mit viel Spray gegen Myriaden von Moskitos anzustinken. An jedem zweiten Baum (fast!) macht Francisco halt und erklärt seinen Nutzen. Der Matapalo („Stammtöter“), der mit seinen Schlingen andere Bäume erwürgt; die Chonta-Palme, deren orangefarbene Früchte beim Fischfang einen prima Köder abgeben. Die Blätter des Quina-quina helfen gegen Malaria, der Saft des Chuchuhuaso (Fruchtschale kochen) wirke wie Viagra. Und der quer liegende Baum, über den wir gerade klettern, das sei der Tacú, erklärt uns Francisco. Aus seinem harten Holz mache man Stößel zum Stampfen für Mörser. Am Wendepunkt unseres Rundkurses stehen einige imposante Mapajos, wurzelreiche, turmhohe Baumveteranen. Um die hochverehrten Dschungelriesen ranken sich allerlei Legenden. Dass sie Kinder und Schwangere krank machen. Oder sich um Mitternacht teilen und eine Person heraustreten lassen. Das hätten die Groß- und Urgroßeltern erzählt, sagt uns Francisco, bevor er für die amigos visitantes (und deren Kameras), behände wie ein Äffchen den Baumstamm einige Meter hochklettert. Aber der Mapajo gilt auch als Glücksbringer und Garant harmonischer Koexistenz. Also tauften die Dorfgemeinschaften, die am Hochufer des Río Quiquibey siedeln, ihre Ökolodge im Jahr 2000 auf den Namen „Mapajo“.
Sechs Bungalows mit Balkon auf Stelzen, die Wände aus hartem Itaúba-Holz, die Dächer aus Palmenblättern. Nahebei ein einfaches Restaurant. „Früher kamen häufig Touristen, ohne einen einzigen Boliviano dazulassen. Das wollten wir ändern“, sagt Carlos Aparicio, der Verwalter der touristischen Anlage. Das Unternehmen Mapajo Ecoturismo Indígena gehört zu 100 Prozent der Dorfgemeinschaft – 35 Familien mit 220 Personen – und wird von ihr selbst geführt. Die Einnahmen aus dem Tourismus sollen dazu beitragen, das Dorf zu entwickeln, den Lebensstandard der Einwohner zu verbessern, den Artenreichtum der Wälder und Tiere zu schützen
Von der Metropole La Paz waren wir in der Fairchild Aircraft, einem kleinen Sechzehnsitzer, nach Rurrenabaque, kurz Rurre, geflogen. Das aufstrebende, rasant wachsende Urwaldstädtchen mit schätzungsweise 20.000 Einwohnern lebt heute vorwiegend vom Tourismus – als Ausgangsbasis für Touren in den Regenwald und in die Pampa. Carlos Aparicio hatte uns in Rurre abgeholt und im Außenborder drei Stunden flussaufwärts durch die Bala-Schlucht erst auf dem breiten Río Beni, dann auf dem schmaleren Río Quiquibey zur Ökolodge beim Dorf Asunción del Quiquibey geschippert. Während der Bootsfahrt hatte sich der Himmel plötzlich verfinstert, Minuten später prasselte ein tropischer Regenguss auf uns herab. Es war Regenzeit, die Flüsse waren dunkelbraune, vom Sand aufgewühlte Ströme geworden, das Hochwasser hatte Bäume und eine Schutzhütte für Parkwächter mitgerissen.
Der Fluss trennt das 400.000 Hektar große Biosphärenreservat Pilón Lajas vom fünfmal so großen Madidi-Nationalpark. Pilón Lajas hat einen doppelten Schutzstatus, es ist heute nicht nur Biosphärenreservat, sondern auch tierra comunitaria de origen (indigenes Gemeinschaftsland). Im Jahr 1992 waren die indigenen Völker Boliviens zum Regierungssitz nach La Paz marschiert, um ihre Landrechte einzufordern. Aber erst 2007 wurde den Mosetenes und Tsimanes, den Ureinwohnern der Region Pilón Lajas, der Besitz ihres Landes und das Recht auf seine Nutzung und Verwaltung staatlich anerkannt.
Das Schutzgebiet ist nach Zonen der Nutzung eingeteilt: für die Jagd, den Holzeinschlag, die Bewirtschaftung der Böden, den Tourismus. Die Dorfbewohner jagen und fischen nur für den Eigenbedarf, benutzen das Holz nur zum Hausbau. Jede Familie hat ihr chaco, eine kleine Parzelle, um Mais und Reis, Kakao und Yucca anzupflanzen.
Doch trotz des Schutzstatus lauern die Gefahren überall. Vor allem illegale Holzfäller betreiben Raubbau an der Natur. „Wir sind nur 12 Parkwächter in Pilón Lajas“, sagt uns Vicente Canare auf einer Wanderung, „wie sollen wir die Illegalen aufhalten, die nachts mit Motorsägen anrücken?“ Es hat schon Zusammenstöße zwischen Dorfbewohnern und den Holzhyänen gegeben. Und im Nationalpark Madidi lasse die Regierung Probebohrungen nach Erdöl durchführen. Schließlich drohe in der Bala-Schlucht noch immer der geplante Staudamm, der mehrere Dörfer fluten würde.
Jetzt bleiben auch noch die Touristen aus. Kamen nach Gründung der Ökolodge rund 1.200 Besucher im Jahr nach Mapajo, sind es jetzt nur noch etwa 700. Carlos Aparicio, der Verwalter, unterbreitet den amigos visitantes abends im Restaurant die Gründe. Anfangs wurde Mapajo von einem Kanadier beraten und von einer Entwicklungshilfeorganisation unterstützt. Heute fehlt die Beratung, vor allem mangelt es an der Vermarktung. Irgendwann griff ein Dorfbewohner in die Kasse – futsch war das Touristengeld. Zwar wurden alle Bungalows mit Duschen nachgerüstet, doch oft kommt kein Wasser heraus, so dass schweißgebadete Besucher vor der Gemeinschaftsdusche Schlange stehen. Das gravierendste Problem aber sei die Sprache, denn keiner im Dorf spreche Englisch, sagt Carlos. Bald solle ein Freiwilliger den Touristenführern Kenntnisse des Englischen vermitteln.
Am letzten Tag unseres Aufenthalts lernen wir einige actividades de la comunidad kennen. Carlos’ Frau Jenny, die im Schatten eines Pampelmusenbaums an einem Bambusgestell eine Tasche webt, während ihr drei Wochen altes Baby in der Hängematte schaukelt. Die greise Doña Victoria, die, auf einer Strohmatte sitzend, Baumwolle spinnt. Ein Mädchen, das mit einem schweren Stab aus Tacú-Holz Mais im Mörser zerstampft. Bei Vollmond hocken wir schließlich auf Bänken und probieren Chicha, ein aus fermentiertem Mais hergestelltes einheimisches Bier. Danach träumen wir leicht beschwingt unter Moskitonetzen.
Zurück in Rurre. Alle Dörfer, die verstreut an der staubigen Piste Carretera Internacional liegen, wurden vor rund dreißig Jahren gegründet, als die bolivianische Regierung in großem Stil indigene Aymara und Quechua aus dem Hochland der Anden in das spärlich besiedelte Tiefland des Amazonas umsiedelte. Was zu zahlreichen Konflikten zwischen den ursprünglichen Bewohnern und den Neusiedlern führte. Mit einem Mitarbeiter von T.E.S. (Turismo Ecologico Social) fahren wir in einige der „Migranten“-Dörfer wie Nuevos Horizontes und Nueva Esperanza. „Ein Tag für die Dorfgemeinschaften“ heißt das Programm, bei dem Touristen drei lokale Initiativen besuchen.
Die Frauenkooperative Tres Palmas in Nuevos Horizontes residiert in einem repräsentativen Gebäude mit Werkstätten, Besucherraum und Shop. 30 Frauen verschiedener Ethnien verarbeiten die Fasern der Jipijapa-Palme zu Sombreros, bunten Fächern und Schmuckkästchen. „Das ist ein kleiner Zusatzverdienst“, sagt die Präsidentin Maria Rosero, „denn die Landwirtschaft bringt nicht viel ein.“ Leider kämen nur wenige Touristen vorbei.
Mapajo und TES sind zwei von rund 20 gemeindebasierten touristischen Unternehmen, die in Boliviens ländlichen, indigenen Gebieten tätig sind. Sie sind zu 100 Prozent Besitz des Dorfes, werden von diesem selbst verwaltet und setzen auf eine nachhaltige Entwicklung. Vorreiter und großes Vorbild ist die Ökolodge Chalalán, drei Bootsstunden von Mapajo entfernt, eine inzwischen international renommierte, mit Preisen überhäufte Lodge. Andere Dorfgemeinschaften stehen erst am Anfang oder müssen um ihre Existenz kämpfen.
CARLOS APARICIO, LODGEVERWALTER
Im Jahr 2005 wurde der gemeinnützige Dachverband der Organisationen Red Tusoco gegründet, das bolivianische Netzwerk für einen solidarischen, gemeindebasierten Tourismus. Vor zwei Jahren kam dann der kommerzielle Ableger Tusoco Viajes hinzu, ein Reiseveranstalter in Form einer GmbH, der die Produkte der Mitgliedsorganisationen vermarkten und darüber hinaus touristische Programme anbieten soll.
Ortswechsel. Höhenwechsel. Klimawechsel. Vom üppigen, tropisch-heißen Tiefland des Amazonas im Nordwesten ins karge, subpolare, nachts klirrend kalte Andenhochland im Südwesten. Von La Paz aus fahren wir im Landcruiser nach Süden, hinter Oruro wird die Asphaltstraße zur Schotter- und Sandpiste. Eine kurzweilige Tour. Alex, der Fahrer, und Javier, der Führer vom Red Tusoco, erzählen uns zu jedem Ort, den wir passieren, eine passende Geschichte.
Breitwandpanorama
Dass der Bürgermeister im Dorf Ayo Ayo im Jahr 2004 öffentlich verbrannt wurde, weil er viel Geld aus der Gemeindekasse abgezweigt hatte – ein Akt indigener Justiz. Dass Challapatta der Ort der Autoschieber sei, die pro Tag 40 bis 50 Autos aus dem nahen Chile ins Land schmuggelten. In der Tat, in dem Outlaw-Pueblo hat kein Auto ein Nummernschild. Dass der Eisenbahnfriedhof bei Uyuni einen Umweg lohne. Stimmt. Welch pittoreskes Ensemble schrottiger Waggons und Dampflokomotiven!
Dann fahren wir zum Salar de Uyuni, mit 10 Milliarden Tonnen Salz (und riesigen Vorkommen von Lithium) auf 10.000 Quadratkilometern der größte Salzsee der Erde. Ein großartiges Breitwandpanorama, eine auf Salz gebaute Weite, am Horizont eine Gebirgskette mit dem Vulkan Tunupa und seiner ewigen Schneehaube. Ein gleißend weißes Salzmeer.
Jeeps, Busse, Lastwagen, ja sogar zwei schwer bepackte französische Radtouristen brettern kreuz und quer über die mehrere Meter dicke Salzkruste. Aus dem Nichts, wie ein Blendwerk, erhebt sich die Isla Incahuasi (auf Quechua „Haus des Inka“) aus dem Salzmeer. Die Felsinsel ist mit hunderten uralten, bis zu neun Meter hohen Kakteen bewachsen. Vorbei an Steinen mit Korallenformationen, Andenkaninchen und Wegweisern aus abgestorbenem Kakteenholz wandern wir zum Gipfel. „Hier opfern die umliegenden Gemeinden der Aymara an jedem 1. August der Mutter Erde, der Pachamama, ein weißes Lama oder ein weißes Lamm“, erklärt unser Begleiter Javier Huarachi. „Damit es viel regnet und die Ernte gut wird.“
Unsere Weiterfahrt verläuft dann nicht ganz nach Plan: Weil es über Nacht stark geregnet hat, hat sich das Salzmeer stellenweise in ein richtiges Meer verwandelt. Behutsam manövriert Alex den Geländewagen stundenlang durch das tückische, knöcheltiefe Nass. Vor uns spiegelt sich der Vulkan Tunupa im Wasser. „Ein sehr seltenes Naturspektakel“, sagt Alex. Wir sind hin und weg.
Tomarapi ist die letzte Station unserer Reise. Die Ökoherberge liegt im Sajama-Nationalpark am Fuß des kegelförmigen Vulkans Nevado Sajama, des mit 6.542 Metern höchsten Bergs Boliviens. Ein Fünftel der Landesfläche steht unter Naturschutz, es gibt 22 Schutzgebiete, der Sajama-Nationalpark wurde schon im Jahr 1939 gegründet und ist damit die älteste Área Protegida. Zwischen dem erloschenen Sajama, für die Aymara „ein Vater, der uns beschützt“, und den anderen Vulkanriesen liegen Hochebenen mit Queñua-Wäldern und Grassteppen, es gibt heiße Quellen und Geysire, prähispanische Chullpares, Grabstätten der Aymara, alte Festungen.
Netzwerk zur Vermarktung
Überwiegend leben die 1.500 Bewohner des Parks von der Zucht von Alpakas und Lamas. Und seit einigen Jahren von der Schur der 5.000 geschützten, freilaufenden Vikunjas, deren feinste Wolle eine heiß begehrte Ware ist und bis zu 700 Dollar pro Kilo einbringt. Vor 20 Jahren waren die Vikunjas fast ausgerottet, die Aymara glaubten, sie würden das Futter ihrer Alpakas wegfressen und Krankheiten verursachen. Ein Entwicklungsprogramm der bolivianischen Nationalparkbehörde Sernap und der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) konnte die Aymara vom Potenzial der Vikunjas überzeugen.
Auch Tomarapi ist Mitglied im touristischen Netzwerk Red Tuscoco. 26 Familien betreiben die mit Sonnenkollektoren versehene Ökolodge, an deren Bau auch die deutsche GTZ beteiligt war. Javier stammt selbst von hier. „Alle Mitarbeiter nehmen ständig an Schulungsprogrammen teil“, sagt der 27-jährige Aymara, der Tourismus studiert. Alle Mitarbeiter müssten alles können, vom Rezeptionisten bis zum Kellner.
Javiers Cousine Arminda, wie viele Aymara den Fremden gegenüber zurückhaltend, arbeitet zurzeit als mesera und serviert uns das 3-Gänge-Abendmenü im rustikalen Restaurant: Als Vorspeise gibt es eine Suppe aus Quinoa (Andenhirse), dann Alpakafleisch mit Reis, zum Dessert ein Vanille-Flan.
Zum Abschluss des Tages sitzen wir mit einem Mate-Tee vor dem Kamin, in dem Queñua-Holzscheite knistern. Nachts wird es lausig kalt, zum Glück gibt es Berge dicker Decken. 4.200 Meter sind verdammt hoch, im Bett dreht sich einem der Kopf. Kein Wunder angesichts des Höhenrauschs in dieser atemberaubenden, rauen Andenlandschaft. Auch kein Wunder, dass Tomarapi oft gut gebucht ist, vor allem Rucksackreisende schätzen das Ambiente.
Beim Abschied taut Arminda regelrecht auf. Sie studiere Gastronomie und Hotellerie in einem Privatinstitut in La Paz, erzählt sie uns. Sie stammt von hier, ihre Familie lebt hier, sie fühlt sich hier wohl. Aber ihr großer Traum ist es, einmal ein eigenes Restaurant zu besitzen, später vielleicht sogar ein kleines Hotel. Wo? In La Paz.
■ Günter Ermlich, 59, ist freier Autor mit Wohnsitz in Bochum. Er verzichtet gern auf Wellnessurlaub und Pauschalreisen