Clan der rigiden Sozialaufsteiger

Existenzialphilosophie des Gangstertums: Nanni Balestrini erzählt in „Sandokan“ ohne Punkt und Komma vom Treiben der Camorra

VON ANDREAS FANIZADEH

Der italienische Autor Nanni Balestrini hat sich immer wieder für die Grenzen zwischen bürgerlicher Ordnung und plebejisch-parastaatlicher Gewalt interessiert. In den 1980ern schrieb er Dokumentarprosa über Italiens autonome Jugendbewegung, in den 1990ern den erfolgreichen Hooligan-Roman „I Furiosi. Die Wütenden“ über die rot-schwarzen Brigaden des AC Milan. Nun ist mit „Sandokan“ eine napolitanische Camorra-Geschichte erschienen. Ausgangspunkt der Erzählung ist der sagenhafte Aufstieg und Niedergang des Bardellino-Clans. Für das Buch hat Balestrini zwei Jahre recherchiert. Die Bardellino-Clan – das sind ursprünglich verarmte Landproletarier, deren Kinder keine Möglichkeit sehen, legal an schöne Frauen, dicke Autos und schicke Häuser zu kommen. In selbstverständlicher Skrupellosigkeit schaltet der Clan seine möglichen Konkurrenten aus und schafft sich ein effizientes Netz territorialer und familiärer Zugehörigkeit. Er okkupiert das öffentliche Leben, die Geschäfte, die politischen Parteien und Verwaltungen, um sich so immer stärker in die Welt auszubreiten, bis zur Kontrolle lukrativer Überseegeschäfte.

Balestrini beschreibt aus der Perspektive von früheren Clanmitgliedern die Mentalität und Vorgehensweise der Camorra im Süden Neapels. Es geht ihm um die Lebens- und Alltagsvorstellungen, das Milieu, aus dem heraus sich lokale Habenichtse in globale Player verwandeln. Der Ursprung ist bäuerlich-plebejisch und roh. „Wenn du nicht alle drei Sekunden fluchst nicht alle fünf Sekunden auf den Boden spuckst dann kann es passieren dass die dich für schwul halten und auch wenn du’s nicht bist testen sie das mal aus ein paar Jungs sind schon vergewaltigt worden aber niemand hat je davon gesprochen denn das ist so eine Sache in meiner Gegend sind immer eine Menge Dinge getan worden die auch immer noch getan werden alle möglichen Dinge aber davon darf man nicht reden“.

Ohne Punkt und Komma erzählt Balestrini diese unsentimentale Geschichte. Er berichtet von provinziellen Typen am unteren Sockel der gesellschaftlichen Hierarchie, die dem ökonomischen Erfolg und Fortkommen alles andere unterordnen.

Die gesamte Intelligenz, das gesamte Benehmen ist auf die räuberische Aneignung der Werte anderer konzentriert. Das hat comichafte Züge. Machtstreben und Sozialverhalten dienen allein dem ökonomischen Wohlergehen des Clans, den Familien und dem Konsum. Dahinter schimmert keine weitere Vorstellung von Gesellschaft oder Kultur. Es ist wie bei der – sehr unterhaltsamen – US-amerikanischen Fernsehserie „Die Sopranos“: Es geht zumeist um alles, aber eigentlich um nichts. Am Anfang der Camorra steht eine rigide Klassenstruktur, das Ausgeschlossensein, am Ende ein rigides, darwinistisches Aufbegehren dagegen, ein dummes Gangstertum ohne Spur einer humanistisch-kommunistischen Rebellenanwandlung. Wer nicht zur Sippe gehört, der kriegt auch nichts. Dieses Denken hat etwas Atavistisches, und man mag kaum glauben, dass man in Westeuropa zu Beginn dieses Jahrtausends damit „Geschäfte“ im großen Stil machen kann. Aber es scheint zu gehen. Dabei handelt es sich nicht allein um Betrug, Korruption oder Preisabsprachen wie bei der Baumafia Spaniens oder aktuell bei Konzernen wie Siemens. Camorra heißt nach Balestrinis Bericht vor allem: dreisteste Kapitalaneignung ohne noch so haselnusskleine produktive, soziale Idee.

„Sandokan“ spricht von der Aneignung der Rathäuser, der Rentenauszahlungen, von riesigen EU-Subventions-Umleitungen im Süden Italiens. Von Gangsteraufsteigern, die für Straßen abkassieren, die niemals gebaut wurden. Die systematisch Müll statt der angeblich überproduzierten Tomaten in Deponien kippen, um EU-Millionen abzugreifen. Überflüssig zu sagen, wie es den Bauern ergeht, die nicht zum Clan gehören und die tatsächlich in aller Naivität versuchen, ihr redlich überproduziertes Obst oder Gemüse loszuwerden.

Die erste Auflage von „Sandokan“ war bei Erscheinen in Italien 2004 rasch ausverkauft. Danach war das Buch durch einige Verleumdungsklagen blockiert. Balestrini hat diese Prozesse mittlerweile für sich entscheiden können. Von weiteren Repressalien blieb er verschont, im Gegensatz zu Roberto Saviano, dem jungen Autor eines anderen Buches über die napolitanische Camorra. Davor schützt Balestrini auch die punkt- und kommalose Kunstsprache, die die Erweiterung der Dokumentation um Narration und Fiktion betont. „Sandokan“ arbeitet empirisch und erklärt so auf erzählerische Weise prägnant die Existenzialphilosophie des napolitanischen Gangstertums. Die Mischung aus Roman und Analyse ist gelungen und trotz Fehlens der Interpunktion leicht und packend zu lesen.

Nanni Balestrini: „Sandokan“. Aus dem Italienischen von Max Henninger. Assoziation A, Berlin 2006, 144 Seiten, 13 Euro