: Jeder ist eine Insel
„Eine englische Art von Glück“: Andrea Levy lässt die Perspektiven von jamaikanischen Migranten und britischen Ureinwohnern sich kreuzen
VON MARGRET FETZER
Postkoloniale Literatur zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie eine Geschichte aus nicht-europäischer Perspektive erzählt. In „Eine englische Art von Glück“, ihrem vierten und mehrfach preisgekrönten Roman, geht die von jamaikanischen Eltern in London geborene Schriftstellerin Andrea Levy über diese Erwartung hinaus; sie lässt nicht nur Hortense und Gilbert, die sich von Jamaika aus ins britische Mutterland aufgemacht haben, sondern auch Queenie und Bernard, ein weißes Londoner Ehepaar, zu Wort kommen. Die Wege der vier Protagonisten und Erzähler kreuzen sich 1948 in London, als Hortense und Gilbert bei Queenie zur Untermiete einziehen und ihr rassistischer Ehemann Bernard unglücklicherweise doch noch aus dem Krieg zurückkehrt.
Gilbert macht sich nach England auf, weil ihm das „Small Island“ (Originaltitel) Jamaika zu eng geworden ist. Doch er muss feststellen, dass es den Engländern – trotz ihrer großen Insel – an Geistesgröße und Weite fehlt. Zwar hatte das Mutterland Gilberts Dienste als Soldat der Royal Air Force während des Weltkriegs gern in Anspruch genommen, doch als er 1948 mit Müh und Not einen Job als Postfahrer bekommt, weigert sich sein englischer Kollege, mit ihm, einem Schwarzen, auch nur ins selbe Auto zu steigen. Die Mitgift seiner Frau Hortense bestand darin, Gilbert die Überfahrt zu finanzieren, unter der Bedingung, dass er sie bald nachholen würde. Nun ist schockiert, dass ihre in Jamaika absolvierte (britische!) Lehrerinnenausbildung in England so gar nichts wert ist. Zu allem Überfluss entspricht Gilberts Einzimmerabsteige keineswegs den Vorstellungen, die sie sich von England gemacht hat: „Leben so die Engländer?“
Eigentlich müsste sich Hortense bestens mit ihrer Vermieterin verstehen, denn auch Queenie hat Bernard aus rein pragmatischen Gründen geehelicht, um der Mitarbeit im elterlichen Metzgerbetrieb zu entkommen. Aber mit dem gegenseitigen Verstehen und Verständnis hapert es in diesem Roman gewaltig, nicht nur dann, wenn Hortense im Lebensmittelladen dreimal wiederholen muss, dass sie gerne eine Dose Kondensmilch hätte – an ihrem jamaikanischen College war sie stets für ihre tadellose Aussprache gelobt worden. Der spießbürgerliche Langweiler und Rassist Bernard versteht weder die Welt noch seine Frau mehr, als er bei seiner Heimkehr mit schwarzen Untermietern in seinem Elternhaus konfrontiert wird, Queenie wiederum kann nichts mit Hortenses abgehobener Art anfangen, und Gilbert und Hortense finden sowieso keinen Draht zueinander. Alle vier sind in ihrer je eigenen Geschichte verstrickt und schwelgen nur allzu gern in der Vergangenheit: Mehr als die Hälfte der Kapitel tragen die Überschrift „Vorher“.
Nur beim Lesen verbinden sich die einzelnen Erfahrungen, und so entsteht ein eindrückliches und humorvolles Panorama, in dem sich Verhalten und Empfinden jeder Figur ganz neu erklären. In Hortenses Augen ist Gilbert ein unflätiger und gedankenloser Prolet, aber wenn er selbst erzählt, überrascht er mit persönlichen Geständnissen – Hortense erscheint ihrerseits als „Miss Hochnäsig“. Bei Gilberts groß angelegter Parabel auf England als die heruntergekommene Mutter, die ihre schwarzen Kinder nicht erkennt, muss man sich allerdings fragen, ob dieser Erzähler und Hortenses Ehemann tatsächlich ein und dieselbe Person sind. Ein anderes Mal findet Gilbert eine grün glänzende Brosche auf der Straße, die sich bei näherem Hinsehen als ein Fliegenschwarm auf einem Haufen Hundekot entpuppt – ein etwas plumpes Symbol für die englische Art von Glück, von der dieser Roman handelt.
Insgesamt ist Andrea Levy hier aber etwas Großartiges gelungen: Im Lesen sind Gilbert, Hortense, Queenie und Bernard plötzlich alle gleichermaßen small islands, denen der Kontakt zur anderen Kultur und Hautfarbe, zum anderen Geschlecht, zum anderen Menschen fehlt. Gilberts „eigenartiger Wunsch, dass ein Mensch, der mich ansah, sich nichts dabei denken sollte“, geht nicht in Erfüllung, denn bei der Lektüre von „Eine englische Art von Glück“ kann man kaum gleichgültig bleiben; stattdessen erweisen sich die Geschichten jeder einzelnen Figur in all ihrer Unterschiedlichkeit als gleich gültig, und man wünscht sich, dass jede von ihnen, auch über das bittersüße Ende des Romans hinaus, auf ihre eigene englische Art glücklich werden wird.
Andrea Levy: „Eine englische Art von Glück“. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2007, 554 Seiten, 22,90 Euro