: Anklage im Mordfall Litvinenko gefordert
Die britische Staatsanwaltschaft beschuldigt den russischen Geschäftsmann Andrej Lugowoj, seinen Landsmann und Exspion Alexander Litvinenko im vergangenen Jahr in London vergiftet zu haben. Moskau lehnt eine Auslieferung Lugowojs ab
VON RALF SOTSCHECK
Der russische Geschäftsmann Andrej Lugowoj soll den russischen Exspion Alexander Litvinenko in London vergiftet haben. Davon ist die britische Generalstaatsanwaltschaft überzeugt. Sie forderte gestern, Lugowoj des Mordes anzuklagen, und stellte einen Auslieferungsantrag in Moskau. „Die Beweise, die uns die Polizei übergeben hat, sind ausreichend, Lugowoj des Giftmordes an Litvinenko anzuklagen“, sagte Staatsanwalt Ken Macdonald. Um welche Beweise es sich dabei handelt, sagte er nicht. Moskau lehnte gestern eine Auslieferung Lugowojs umgehend ab.
Es war einer der spektakulärsten politischen Morde in der Geschichte. Nachdem Litvinenko am 1. November 2006 mit Vergiftungserscheinungen in ein Londoner Krankenhaus eingeliefert worden war, rätselten die Ärzte lange, was seinen Zustand ausgelöst haben könnte. Erst nach drei Wochen, wenige Stunden vor Litvinenkos Tod, fanden sie Spuren des radioaktiven Isotops Polonium-210 in seinem Körper. Kurz vor seinem Tod machte Litvinenko den russischen Präsidenten Wladimir Putin für die Tat verantwortlich.
Die Polonium-Spur zieht sich quer durch die englische Hauptstadt. Man fand das Isotop, das 1898 von Marie Curie entdeckt und nach ihrem Geburtsland Polen benannt wurde, im Londoner Millennium-Hotel, im Emirates-Stadion des FC Arsenal, in drei Flugzeugen von British Airways und in mehreren anderen Gebäuden in London. Allen Orten ist gemeinsam, dass sich Lugowoj dort aufgehalten hat.
Der ehemalige FSB-Agent hatte Litvinenko in dem Monat vor dessen Vergiftung viermal getroffen. Zuletzt trank er am 1. November mit ihm und dem russischen Geschäftsmann Dimitri Kowtun im Millennium-Hotel Tee. Dieser Tee sei vergiftet gewesen, glaubt die Polizei. Am Abend ging Lugowoj mit seiner Familie ins Londoner Emirates-Stadion zum Fußballspiel FC Arsenal gegen ZSKA Moskau.
Auch in der britischen Botschaft in Moskau, wo Lugowoj seine Aussage gemacht hatte, fand man Polonium, ebenso wie in der Hamburger Wohnung von Kowtuns Exfrau, in seinem Auto und in der Wohnung seiner Exschwiegermutter, wo Kowtun übernachtete, wenn er in Hamburg war. Warum für den Mord Polonium verwendet wurde, wo das Gift langsam wirkt und für wochenlange Medienaufmerksamkeit sorgte, ist unklar.
Klar sind die Mordmotive. Litvinenko arbeitete in den Neunzigerjahren für den KGB und die Nachfolgeorganisation, den FSB, nachdem er aus der Armee ausgeschieden war. Ende der Neunzigerjahre zerstritt er sich mit dem damaligen FSB-Chef Putin, weil er dem Geheimdienst Korruption vorwarf. Zudem soll Litvinenko Hinweise zur systematischen Verfolgung von Mitarbeitern des Ölkonzerns Yukos durch die russische Regierung gesammelt haben. Mehrere Menschen aus dem Umfeld des Unternehmens sind vermisst, unter ungeklärten Umständen verstorben oder sitzen im Gefängnis.
In einem Buch beschuldigte Litvinenko den FSB, für die Bombenanschläge auf Moskauer Wohnhäuser verantwortlich zu sein, bei denen 1999 rund 300 Menschen starben. Die russische Regierung dagegen behauptete, tschetschenische Rebellen steckten hinter den Attentaten. Kurz darauf marschierten russische Truppen in Tschetschenien ein.
Litvinenko floh 2001 nach Großbritannien. Zuletzt hatte er an der Aufklärung des Mordes an der regimekritischen russischen Journalistin Anna Politowskaja gearbeitet. Am 1. November besuchte er mit dem italienischen Spionageexperten Mario Scaramella am Nachmittag eine Sushi-Bar am Piccadilly Circus. Der soll ihm bei dieser Gelegenheit Informationen über Politkowskajas Mörder gegeben haben.
Litvinenkos Witwe Martina hat im April die „Litvinenko Justice Foundation“ gegründet. Ziel dieser Stiftung sei es, Druck auf die Regierungen in London und Moskau auszuüben, damit Litvinenkos Mörder zur Strecke gebracht und die in Zusammenhang mit dem Mord verseuchten Menschen entschädigt werden, sagte sie. Bei 120 Personen sind in London Spuren von Polonium nachgewiesen worden, weltweit sind es womöglich 450 Menschen in 48 Ländern.
Putins Nachfolger beim FSB, der inzwischen pensionierte Alexander Gusak, bezeichnete Litvinenko vor kurzem als „Verräter, der in der Sowjetunion zum Tode verurteilt worden wäre“. Litvinenko habe andere russische Agenten an den britischen Geheimdienst verraten. Einer dieser Agenten habe Gusak angeboten, Litvinenko umzubringen. Gusak bestätigte aber auch Litvinenkos Behauptung, dass der russische Geheimdienst 1997 den im Londoner Exil lebenden russischen Milliardär Boris Beresowski umbringen wollte. Beresowski war ein Freund Litvinenkos und einer der schärfsten Kreml-Kritiker. In einem Interview mit dem Guardian erklärte Beresowski vorigen Monat, dass er einen gewaltsamen Umsturz in Moskau plane. Die russische Staatsanwaltschaft forderte daraufhin Beresowskis Auslieferung, was Großbritannien ablehnte.