Wie die Rekorde in den Fußball kommen

PRESS-SCHLAG An 7:1-, 6:0- oder 5:0-Siege müssen wir uns künftig gewöhnen. Schön ist das nicht

Wenn das Spiel langweilig wird, erfindet der Kapitalismus einfach neue Fußballrekorde

Ist das noch normal? 5:0, wie am Donnerstag Mönchengladbach über Limassol? 4:0 wie Dortmund bei Galatasaray? 7:1 wie Bayern bei AS Rom oder die Löw-Elf im WM-Halbfinale gegen Brasilien? Muss man sich daran gewöhnen?

Hoffentlich nein. Leider ja.

Während es aber sinnvoll ist, zu wissen, welcher Mensch am höchsten springt, am schnellsten läuft oder die schwersten Gewichte stemmt, galten Rekorde im Fußball bislang als überflüssiger Kram, die bloß einen Grottenkick aufpeppen sollten. Jüngst vermeldete der Kicker, dass Eintracht Braunschweig einen neuen Rekord aufgestellt habe: „die Mannschaft mit den torgefährlichsten Außenverteidigern nach zehn Spielen“! Das sei, so das Fachblatt, „ein neuer Zweitliga-Rekord“.

Bislang gehörte es zum allergrundlegendsten Wissen, dass zu einem großen Spiel zwei gute Teams gehören. Der Philosoph Jean-Paul Sartre hat den Gedanken so ausgedrückt: „Bei einem Fußballspiel verkompliziert sich alles durch die Anwesenheit der gegnerischen Mannschaft.“ Demütigende Klatschen erlebt man vielleicht im Kinderfußball; in der Champions League oder einem WM-Halbfinale muss man jedoch schon ein sehr dem Fußball abgewandter und dem dumpfen Fantum zugewandter Zuschauer sein, um so etwas zu beklatschen. Wer den Fußball liebt, weiß, dass es das nicht geben sollte. Hoffentlich.

Aber die Entwicklung geht leider in genau diese Richtung, wie nicht nur die jüngsten Champions-League-Ergebnisse zeigen. Große Fußballklubs agieren nicht wie, sondern als Wirtschaftskonzerne. Ihr Ziel ist die Maximierung der Profite, die Ausdehnung des Umsatzes und die Verdrängung der Konkurrenz. Das ist nicht neu, schon Robert Musil schrieb im „Mann ohne Eigenschaften“, es gebe „einflussreiche Industrien, wie die des Fußballspiels“. Aber selbstverständlich hat besagte Fußballindustrie in den letzten Jahrzehnten ein in jeder Hinsicht ungeheures Tempo aufgenommen: Bayern München, Manchester United, Real Madrid oder AC Milan sind keine Vereine im herkömmlichen Sinne mehr, sondern Brands, internationale Marken mit entsprechendem Wert. Sie agieren global, erobern Märkte in Asien und Afrika und haben fußballökonomisch frühere nationale Konkurrenten schon längst bedeutungslos gemacht. „Verwandlung vieler kleinerer in weniger größere Kapitale“, nennt Karl Marx dies: „Das Kapital schwillt hier in einer Hand zu großen Massen, weil es dort in vielen Händen verloren geht.“ Oder an vielen Füßen.

Anders gesagt: Wie der allgemeine auch, so beseitigt der Fußballkapitalismus ganz von alleine das, was ihn erst groß und bedeutend machte: die Konkurrenz. „Die Leute gehen ins Stadion“, sagte noch Sepp Herberger, „weil sie nicht wissen, wie es ausgeht.“ Heute aber weiß man ziemlich sicher, wie es ausgeht, wenn der deutsche Marktführer Bayern München irgendwo antritt. Sein Sieg ist normal, das bange Hoffen auf eine eventuelle Niederlage ist bei vielen noch da, wird aber von Transferperiode zu Transferperiode immer unrealistischer, und was an seine Stelle tritt, ist das Beschreien neuer Rekorde. Höchster Auswärtssieg in Italien! Kleinster Kopfballtorschütze des Jahres! Unrasiertester Mittelfeldspieler im Uefa-Geltungsbereich! Oder auch: Mannschaft mit den torgefährlichsten Außenverteidigern!

Ach, hört mir doch auf damit.

MARTIN KRAUSS