Das Fest

AUSSENLAGER Im ostfriesischen Engerhafe wurden KZ-Häftlinge zu Tode geschunden. Alljährlich wird mit Verwandten der Toten gedacht und das Leben gefeiert

Einige Dorfbewohner sind gekommen. Andere würden das nicht über sich bringen

Von Jan-Paul Koopmann
(Text) UND Nikolai Wolff (Fotos)

Die Bahnstrecke nach Emden liegt neben der schnurgeraden B72. Ein Autokorso fährt sie entlang durch das menschenleere Ostfriesland. Julio Canto-Ortiz sitzt in einem der Autos – Blick und Gedanken folgen den Gleisen. Sein Großonkel fuhr die Strecke vor 70 Jahren. Im Zug. Die Landschaft, mit dem Hügel in der Ferne und der Kirche von Engerhafe darauf, durfte er sich nicht ansehen. Gesicht nach unten! Hochblicken verboten!

Abseits neben der Kirche steht der schiefe Glockenturm aus Backstein. „Er hat sich über die Jahrhunderte nach Norden geneigt“, erklärt der Spanier. Er weiß viel über diese Gegend, aus der er nicht stammt. Hätte sein Großonkel doch einmal aus dem Fenster geschaut und wäre erwischt worden, er wäre wohl tot geschlagen worden. So hat man ihn zu Tode geschunden.

Die Häuser des Dorfs Engerhafe ducken sich neben der Kirche. Damals gab es hier ein KZ. Ein Außenlager von Hamburg-Neuengamme. Es stand zwei Monate im Herbst 1944. Lang genug, dass 188 der mehr als 2.000 Gefangenen dort starben. An Hunger. An Kälte. An Gewalt. Einer war Manuel Canto Guerrero, Julios Großonkel. Er musste am „Friesenwall“ arbeiten, der Befestigung der Nordseeküste gegen eine Invasion der Alliierten. Er musste einen Panzergraben um die 15 Kilometer entfernte Stadt Aurich ausheben. So haben die Häftlinge letztlich auch ihre eigene Befreiung verhindert.

Noch ist der Autokorso unterwegs. Der Wagen vor dem Spanier hat ein niederländisches Kennzeichen. Drin sitzt Familie van der Weij. Weiter vorn die Voitanes aus Lettland. Überhaupt: In der Kolonne fahren viele mit, deren Namen auf einer Tafel bei der Kirche zu lesen sind. 30 Nachkommen der Toten von damals sind es, die nach Engerhafe reisen, um ein Fest zu feiern.

Der Gulfhof, wo sie zusammenkommen, um von ihren Verwandten zu erzählen, ist ein renoviertes Bauernhaus. Mit großer Diele, mit Leuchtern, die vom Gebälk hängen. Sonst finden hier Konzerte statt – auf Plattdeutsch. Vor der Tür ist der Acker, auf dem damals das Konzentrationslager stand. Der Stacheldrahtzaun grenzte an den Schulhof. Die Lagerkommandantur hatte im Garten des Pfarrhauses Quartier bezogen. Alles geschah mitten im Dorf.

Helfer verteilen Handzettel – ein grober Zeitplan, der später überzogen wird. Es gibt zu viel. „Kommt meine Rede zuerst, und hat sie die richtige Länge?“ Viele sind nicht zum ersten Mal hier – sie kennen einander, übersetzen füreinander. „Was hat er gesagt?“ Hochdeutsch Sprechende rutschen hier schnell ins Platt.

Herbert Müller, Künstler ist er und ein Mann, der auch dann grinst, wenn er wütend ist, rührt am jahrelangen Vergessen. Vor über 20 Jahren stand er mit einer Schülergruppe vor dem Auricher Kulturausschuss und bekam kein Geld für ein Mahnmal. Man habe am Thema „kein Interesse“, wurde gesagt. Und Geld dafür erst recht nicht. Er ist dran geblieben, hat hartnäckig gestritten: Gegen die Ignoranz und gegen ein Dorf, das am liebsten von all dem nichts mitbekommen hätte. Schließlich gab es ihn, den Gedenkstein. 188 Namen.

An diesem Tag, dem des Festes, ist Müller mit seiner Heimat doch im Reinen. Den Lettinnen, die zum ersten Mal da sind, zeigt er, wie die Ostfriesen Tee trinken: schwarz, viel zu stark und darum mit Sahne.

Müller war einer der Ersten, der die Geschichte des Konzentrationslagers aus dem Vergessen geholt hat. Heute gibt es dafür einen Verein. „Das ist wichtig“, sagt Ulrich Kohlhoff, einer der Vorsitzenden. „So kann man uns nicht übergehen.“ Außerdem ist seit einiger Zeit die Internetseite da. Sie ist der Anlaufpunkt für immer mehr Angehörige der Ermordeten.

Als Tiede van der Weij erzählt, wie er seinen Vater zum letzten Mal sah, versagt ihm die Stimme. Heute selbst ein alter Mann, weint er um den Tod seines Vaters.

Pieter van der Weij war Drucker und hat die Zeitung Vrij Nederland verlegt. Ein illegales Blatt gegen die deutschen Besatzer. Ein verhafteter Austräger der Zeitung nannte Pieters Namen. Er wurde deportiert. Die meisten Häftlinge in Engerhafe waren politische Gefangene.

Andere Redner haben andere Erinnerungen und sagen andere Dinge, die ihnen wichtig sind. Julio Canto-Ortiz hat seinen Großonkel, der im Spanischen Bürgerkrieg gegen Franco gekämpft hat, nicht gekannt. Er spricht distanzierter – wie ein Historiker. Viele Reisen hat er unternommen und nachgeforscht. In Spanien und in Deutschland, wo er jetzt lebt.

Auch, warum sie heute hier sind, erzählen die Gäste. Wie sie von Engerhafe und dem Verein gehört haben. Ein Name fällt dabei immer wieder: Imke. „Dann hat Imke angerufen“, sagen sie. Die Bremer Schriftstellerin Imke Hellmann-Müller meinen sie. Sie sucht nach Hinterbliebenen der Toten von Engerhafe. Ihre Großmutter wohnte im Dorf. Direkt neben dem Lager. Und schwieg.

Einige der Nachkommen hat Imke Hellmann-Müller gefunden. Sie ist zu ihnen gefahren, hat ihre Geschichten aufgeschrieben, so wie sie immer schreibt. Als Kurzgeschichte eben. In ihrem Buch „Verschwunden in Deutschland“ stehen elf davon.

Im Augenblick macht sie das, was hier alle tun: Organisieren, Fragen beantworten, Menschen einander vorstellen, die sich noch nicht kennen – oder nur aus dem Buch. So wie Agita Voitane, die Lettin, die wegen ihres Großvaters hier ist. Durch Imke Müller-Hellmann erst hat sie von dessen Tod in Engerhafe erfahren. Fast jeder in Lettland habe solche Leerstellen in der Familiengeschichte, sagt sie: Menschen, die in deutschen KZs oder sowjetischen Gulags verschwanden. Bis zum Zusammenbruch des Ostblocks quälten sich viele mit der Hoffnung, ihre Vermissten hätten im Westen, irgendwo hinter dem Eisernen Vorhang, ein neues Leben begonnen.

Nun ist die Familie dankbar, dass sie weiß, dass er tot ist, und will selbst dabei helfen, Angehörige der übrigen ermordeten Letten zu finden.

Jedes Jahr wird im Gulfhof ein Fest für die Ermordeten gefeiert. Jedes Jahr wird es größer. Wo mehr Menschen sind, sind mehr Ideen, mehr Engagement – wie das neue Mahnmal am Panzergraben in Aurich, das sie zuletzt einweihen konnten.

Es sind auch einige Dorfbewohner auf dem Fest. Andere würden das nicht über sich bringen, sagt Ulrich Kohlhoff vom Verein. Er ist von Beruf Arzt und berichtet, wie er schon mehrfach in der Praxis angesprochen wurde. Auf den Verein und das KZ. Von Patienten, die als Kinder gesehen haben, wie die Gefangenen nach ihrem täglichen Marsch von der Baustelle die Leichen hinter sich her schleppten. Wie die Köpfe auf die Dorfstraße schlugen. Und wie sie stanken, diese gruseligen Männer, denen man gelbe Kreuze auf die Kleidung geschmiert hatte. Denn im Herbst 1944 gab es keine Häftlingskleidung mehr.

Ein kurzes Gebet in der Kirche gibt es. Als die Besucher auf den Kirchplatz treten, dämmert es schon. Ein kalter Wind weht vom Meer über den Hügel. Vierzehn Kerzen, eine für jedes Herkunftsland der Opfer, werden hinunter zum Stein getragen. Es ist still, den Menschen steht die Andacht im Gesicht. Manche weinen.

Die Familie, sagt man, kann man sich nicht aussuchen. Diese Menschen von überall aus Europa sitzen beieinander, weil ihre Vorfahren von Deutschen verschleppt und ermordet wurden. Nach Bratkartoffeln und Backfisch wird endlich auch Wein getrunken. Auf Bierbänken sitzen sie, und wie nach einer Beerdigung löst sich allmählich die Schwere, macht Platz für das Einfache: „Wer hat eigentlich das Denkmal gereinigt?“, fragt jemand, „war das die Gemeinde, oder wir?“ Um so alltäglichen Dinge geht es jetzt. Und auch darum, wo man gut Urlaub machen könnte.