: „Europas Wirtschaft wird ökologisch sein – oder nicht sein“
Der Brüsseler Schriftsteller Geert van Istendael meint, dass nur eine soziale und ökologische EU eine anerkannte Weltmacht sein kann
Der niederländischsprachige GEERT VAN ISTENDAEL (Jg. 1947) lebt heute als Schriftsteller in Brüssel. Davor studierte er Soziologie und Philosophie in Löwen und arbeitete als Journalist beim belgischen Fernsehen.
Nach dem französischen und niederländischen „Nein“ zur EU-Verfassung, die übrigens ein undemokratisches Monster war, aber das nur am Rande, entdeckten die europäischen Spitzenpolitiker plötzlich, dass ihre EU in ein tiefes Tal gefallen war. Wenn man auf dem Boden eines Tals sitzt, kann man zwei Dinge tun: dort sitzen bleiben oder aber nach oben kriechen. Letzteres ist eine hoffnungsvolle Perspektive. Wenn man oben auf einer Bergspitze sitzt, sieht es viel schlechter aus. Dann kann man jederzeit nach unten donnern.
Krise in der EU? Krise bedeutet auch Kehrtwende, Umschwung. Nutzen wir den fünfzigsten Jahrestag der Römischen Verträge als einen Krisenpunkt, Wendepunkt.
In Rom wurde die Basis für die ökonomische Gemeinschaft gelegt. Zugegeben, es war eine soziale Marktwirtschaft, jedenfalls bis in die 90er Jahre, aber immer stärker gerieten die nationalen Regierungen und die EU-Kommission in den Bann von Rufen nach Wettbewerbsfähigkeit, Globalisierung, freiem Binnenmarkt, Wachstum. Es ist wahrlich kein Zufall, dass in der EU der freie Verkehr von Gütern und Kapital dem freien Verkehr von Personen voran gegangen ist.
Mit der Ausnahme von Russland hat Europa fast keinerlei Rohstoffe und kaum Energiequellen. Wenn wir, um Öl und Gas zu bekommen, nicht länger nach den Pfeifen von Geheimagenten tanzen wollen, die im Kreml die wahren Chefs sind, oder von Scheichs von Ländern, in denen Hände abgehackt werden, abhängig sein wollen, dann gibt es nur einen Ausweg: Energie sparen, eigene Energie produzieren. Gehirne und wissenschaftliche Einrichtungen hat Europa im Überfluss. Setzen wir sie für erreichbare Ziele ein.
Bereits vor zehn Jahren berechnete das Wuppertal-Institut, dass die Menschheit achtzig bis neunzig Prozent der Rohstoffe und Energie einsparen müsste. Davon hängt unser nacktes Überleben ab. In der EU können wir alle denkbaren und vorläufig noch undenkbaren Mittel erfinden, um weniger Energie und Rohstoffe zu verbrauchen. Was wir dann noch benötigen, gewinnen wir aus Sonne, Wind, Wasser, Erdwärme, und dies ist alles reichlich vorrätig in der EU.
Ich trage keine Socken aus Ziegenwolle. Mir schwebt keine autarke Wirtschaft vor, Gott bewahre. Das neue Europa muss Werkstätte einer hypermodernen, ökologischen Technologie sein. Noch ist es möglich, einen Vorsprung vor den anderen Weltregionen zu erzielen. Zu diesem Zweck sollten wir Wissenschaft und Technologie anwenden. Deutschland ist heute der größte Windmühlenproduzent der Welt. Das ist ein zaghafter Anfang. Wir müssen dringend verstehen, dass wir weiter kommen müssen. Sonst landen wir wirklich in einem tiefen Tal. Die europäische Wirtschaft wird ökologisch sein oder gar nicht sein.
Wir benötigen noch einen zweiten Wandel. Wir müssen das angelsächsische Wirtschafts- und Sozialmodell aufgeben. Im neuen Verfassungsvertrag müssen wir uns konsequent für ein soziales Europa entscheiden. Die soziale Sicherheit wie sie (vorläufig noch) in Deutschland, Schweden oder in meiner Heimat Belgien existiert, ist ein leuchtendes Beispiel menschlicher Zivilisation. Dieses Licht dürfen wir niemals verdunkeln. Im Gegenteil, verstärken wir dieses System des sozialen Schutzes. Die EU ist eines der reichsten Staatsgebilde der Menschheitsgeschichte. Es ist eine moralische Schande, dass in dieser Region noch immer Millionen von Menschen in Armut leben.
Auch das Modell der sozialen Sicherheit können wir exportieren. Allein ein Europa, das wirklich sozial ist, mehr als heute, viel mehr, kann eine anerkannte Weltmacht werden, allein ein Europa, das eine Alternative bietet, das deutlich anders ist als die Vereinigten Staaten, weil es Hoffnung in die ärmlichsten Hütten bringt. Inzwischen leben in der EU eine halbe Milliarde Menschen. Für viel mehr können wir eine Veränderung bewirken.
GEERT VAN ISTENDAEL
Übersetzung: Ulrike Herrmann