piwik no script img

Archiv-Artikel

Er verzichtet auf den Dirigenten

AGITAVANTGARDE Der Komponist Heiner Goebbels sprach an der Humboldt-Universität im Rahmen der Mosse-Lectures über das Verhältnis von Musik und Politik, einen Kuss und Wasserblasen-Ballerinas

Goebbels glaubt, Medien verhindern Erfahrungen. Daher sei es Aufgabe der Kunst, diese zu ermöglichen

„Liebe Freunde des politischen Liedes“ – nein, diese Worte, mit denen der Komponist Heiner Goebbels am Donnerstag seine Mosse-Lecture an der Humboldt-Universität zum Thema „Musik und Politik“ begann, waren keine Ironie, sondern ein Zitat. So hatte 1980, in Ostberlin, eine junge Frau im Blauhemd der FDJ ein Konzert der südafrikanischen Jazzband Brotherhood of Breath angekündigt.

Während der Veranstaltung vor 30 Jahren, bei der Goebbels zugegen war, kam es zu peinlichen Momenten, insbesondere, weil der Saxofonist der Band noch während der Eröffnungsrede versuchte, die FDJlerin zu küssen. Dieses unvermittelte Abhandenkommen der für einen solchen Rahmen – es handelte sich um ein Festival des politischen Lieds – vertrauten Gesten erschien dem jungen Goebbels damals weit interessanter und politisch bedeutsamer als die Protestsong-Abende mit Pete Seeger oder Joan Baez.

Goebbels erzählte diese Anekdote aber auch, weil ihn die Musik von Brotherhood of Breath in den Siebzigern dazu inspirierte, die im Umkreis der Frankfurter Spontiszene entstandene Formation Sogenanntes Linksradikales Blasorchester zu gründen. Mit Beispielen wie diesen gab der 1952 geborene Komponist die Marschrichtung vor: Statt abstrakt über das Verhältnis von Musik und Politik zu sprechen, blieb er dicht am eigenen Material und seinen Strategien, als Musiker politisch zu intervenieren.

Goebbels, der als Professor für Angewandte Theaterwissenschaften an der Universität Gießen lehrt und seit 2006 Präsident der Hessischen Theaterakademie ist, konzentriert sich in seinen eigenen Werken auf das Musiktheater und „Hörstücke“, häufig nach Texten des Dramatikers Heiner Müller. Dieser trat, neben Komponisten wie Hanns Eisler oder Arnold Schönberg, im Vortrag regelmäßig als Stichwortgeber in Erscheinung.

In „Eislermaterial“, das 1989 in Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern entstand, hat er nicht nur Material des Namengebers verwendet, „aufgehoben“, wie Goebbels es nennt, sondern verzichtet zudem auf einen Dirigenten – laut Elias Canetti gebe es keinen anschaulicheren Ausdruck für Macht –, um für Musiker und Publikum den Blick hin zur Kommunikation zu öffnen. Dabei sitzen die Musiker so weit voneinander entfernt, dass das gemeinsame Spielen erschwert wird. Sie müssen einander anschauen, um im Tempo zu bleiben, und müssen sogar selbst entscheiden, welche Stimme sie aus der Partitur spielen, da Goebbels die Noten nicht instrumentiert hat. Er verlangt seinen Musikern also, ganz im Sinne Eislers, mehr Eigenverantwortung ab als einem herkömmlichen Orchesterspieler.

Die Beteiligung von Musikern und Hörern sieht Goebbels als „strukturelles Moment“, in dem sich das Politische in seinen Werken äußere, ohne dass es sich direkt über den Inhalt mitteilt. In anderen Werken lässt er seine Musiker schon mal Tee kochen oder Ball spielen, um die Erwartungshaltung seines Publikums zu unterlaufen. Goebbels hat sich hier die Position seines Mentors Heiner Müller zu eigen gemacht, dass die Medienindustrie Erfahrungen verhindere, weshalb es Aufgabe der Kunst sei, diese zu ermöglichen.

Dazu benötigt Goebbels keine Ausführenden, wie er an Ausschnitten aus seinem Musiktheater „Stifters Dinge“ demonstrierte: Drei große Bassins werden langsam mit Wasser gefüllt, dahinter steht eine Wand aus Klavieren, die durch mechanische Vorrichtungen bedient werden. Zum Schluss des Stücks sind die Bassins voll gelaufen und die Klavierwand schiebt sich langsam über sie hinweg, um anschließend den Blick auf eine trübe brodelnde Brühe freizugeben. Einige Zuschauer hätten in den Wasserblasen tanzende Ballerinas gesehen. Noch mehr dürfte den Komponisten aber ein Zuschauerkommentar gefreut haben, der ihm nach der Aufführung begeistert mitteilte: „Endlich mal niemand auf der Bühne, der mir erzählt, was ich denken soll!“ TIM CASPAR BOEHME