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Archiv-Artikel

Ein Käfig voller Nonnen

ZWEI OPERN AUS DEN 50ER JAHREN Die Staatsoper steckt Leonard Bernsteins „Candide“ in opulente Kostüme, die Komische Oper bringt Francis Poulenc’ „Die Gespräche der Karmelitinnen“ distanzlos auf die Bühne

Bieito nimmt Poulenc’ Werk so ganz und gar wörtlich, dass wir Buße tun müssen

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Die Staats- wie auch die Komische Oper kehren am Ende der Saison zurück in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts. Eine inzwischen nostalgisch verklärbare Zeit, die nur halb vergessene Schätze enthält. Wir können sie leicht zur Hand nehmen und genießen, so scheint es, ohne uns in die schwere Arbeit der Gegenwartsbewältigung im Spiegel historischer Kunstwerke vertiefen müssen. 1956 hatte einer dieser Schätze in Boston Premiere: „Candide“ von Leonard Bernstein, 1957 ein anderer in Mailand: „Die Gespräche der Karmelitinnen“ von Francis Poulenc. Sie haben nichts miteinander zu tun, was ihren Inhalt und ihren Stil angeht, und sind doch beide eindrucksvolle Zeugen ihrer Zeit.

Und beide hätten mehr verdient an Reflexion eben dieses noch nicht wirklich vergangenen Zeitgeistes, als ihnen in Berlin zugestanden wird. Die Staatsoper verlässt sich ganz und gar darauf, dass es Bernstein schon packen wird, wenn man ihn nur möglichst groß mit allem Glanz und Luxus auf die Bühne bringt. Dafür sorgt vor allem der als Modemacher finanziell gescheiterte, aber nach wie vor überaus kreative Haute-Couturier François Lacroix. Kilometer von Stoff müssen verbraucht worden sein, um allein den Chor in die prachtvoll üppigen Roben zu stecken, und die Regie von Vincent Boussard sorgt vor allem dafür, dass auch die Solisten stets richtig im Rampenlicht stehen, damit uns die Raffinesse und Eleganz ihrer Kostüme nicht entgeht. Sie singen dazu durchweg sehr schön, am schönsten Maria Bengtsson – und natürlich Anja Silja, die Legende, die sich bescheiden mit der Nebenrolle der „Old Lady“ begnügt (eine Puffmutter bei Voltaire) und ein wahrlich sittenwidrig gemustertes Deux-Pieces vorführt.

Toll ist das alles, auch das kongeniale Bühnenbild von Vincent Lemaire, nicht ganz so toll ist jedoch Bernsteins Musik. Er wusste es selbst und hat sein Stück mehrmals umgearbeitet. Überaus ehrgeizig wollte er nicht nur die Aufklärung Europas, sondern auch noch gleich die gesamte Musik des alten Kontinents an den Broadway bringen. Das Ergebnis ist eine Nummernfolge mäßig einfallsreicher Songs und kompliziert langweilig ausgedachter Orchesterstücke, die an keiner Stelle an den satirisch absurden Witz von Voltaires Lehrroman heranreichen.

Wenn wir schon nicht in der besten aller möglichen Opernwelten wohnen, so haben wir doch die besten aller möglichen Kleider. So waren sie auch, die nostalgischen 50er, aber danach geht’s in die Kirche – nämlich in die Komische Oper, die gar nicht komisch ist (aber das ist Bernsteins „Candide“ auch nicht), sondern düster und schwer katholisch. Rebecca Ringst hat für den Regisseur Calixto Bieito die Bühne mit Regalbetten aus Metall zugebaut. In diesem Käfig hausen Nonnen, die sich auf das Martyrium der Französischen Revolution vorbereiten müssen. Den Text schrieb Georges Bernanos nach einer Erzählung von Gertrud von Le Fort, die wiederum auf die historisch verbürgte Hinrichtung von 16 Karmelitinnen im Jahr 1794 zurückgeht. Eine stirbt schon vorher – und sie wenigstens kann Bieito zur Totenwaschung nackt ausziehen, die anderen müssen in ihrem Käfig auf das Fallbeil warten, das Francis Poulenc dann am Ende mitten in ein heilig dahinströmendes „Salve Maria“ so realistisch metallen einschlagen lässt, dass es einen graust.

Diese Oper ist ein unglaublich perfektes Stück Musik von solcher Schönheit, dass man von einem Meisterwerk sprechen muss, es aber nicht kann ohne historische Interpretation, in der die Größe dieser Komposition von ihrer zeitbedingten, ideologischen Funktion unterscheidbar wird.

Im Fall Wagner ist diese Unterscheidung die Bedingung jeder annehmbaren Aufführung. Für Poulenc wäre sie es auch, aber Bieito verweigert diese Arbeit und nimmt dieses Werk so ganz und gar wörtlich, dass wir vor diesen unwiderstehlich golden klingenden Ikonen der Frömmigkeit Buße tun müssen und eintauchen in die Welt der katholischen Restauration im Frankreich der 50er Jahre. Auch diese Zeit ist noch nicht vergangen, und die schockierend distanzlose Regie des Katalanen ist zwar nur schwer zu ertragen, aber am Ende dann doch lehrreich. Es wird Zeit, dass auch die 50er Jahre Geschichte werden. Die Werke der Operngattung, die damals entstanden, müssen ebenso neu gelesen werden wie diejenigen des 19. und 18. Jahrhunderts.

■ Nächste Vorstellungen: „Candide“: 28., 30. 6.; „Gespräche der Karmelitinnen“: 30. 6., 3., 9. 7.