: China entdeckt sich selbst
Was wie Turbokapitalismus aussieht, ist manchmal doch nur Stillstand: Das zehntägige Festival „Umweg über China“ im Berliner HAU-Theater versucht einen Perspektivwechsel gegenüber China
VON CHRISTIANE KÜHL
1,3 Milliarden Einwohner, 9.597.995 Quadratkilometer Fläche, über 10 Prozent Wirtschaftswachstum, Börsenanstieg von 62 Prozent allein seit Januar: Angesichts der wachsenden Akkumulation von Superlativen steigert sich die internationale Aufmerksamkeit für China fast ins Hysterische. Eine adäquate Annäherung an die Volksrepublik scheint so gut wie unmöglich. Wie soll man erzählen über ein Land, dessen Kultur so viel älter ist als die unsere, von völlig anderen Grundlagen ausgeht und den Westen doch gerade auf seinem ureigensten Gebiet, dem Kapitalismus, überholt? Wie kann man in zehn Tagen auch nur einen repräsentativen Ausschnitt der zeitgenössischen Kunst einer Gesellschaft zeigen, die sich radikaler im Umbruch befindet, als jede europäische Revolution je zu träumen wagte?
Man kann es nicht, das weiß man auch am Berliner Hebbel am Ufer (HAU), doch Kapitulation vor Überforderung war an Matthias Lilienthals Theater nie gängige Strategie. Die aktuelle Fortsetzung einer 2005 begonnenen Veranstaltungsreihe über Transformationsgesellschaften wurde deshalb „Umweg über China“ genannt – ein Titel entlehnt von dem französischen Philosophen und Sinologen François Jullien, dessen Blick auf China explizit dem besseren Verständnis der eigenen Kultur gilt.
Wie wenig die Entwicklung vom maoistischen Sozialismus zum Sozialismus kapitalistischer Prägung mit dem Umbruch in den ehemaligen Ostblockstaaten zu tun hat, verdeutlichte am Beginn des zehntägigen Festivals der 1958 geborene Videokünstler Wang Jianwei. Absolut alles sei früher für seine Generation entschieden worden. Die treibende Kraft hinter ihrer Arbeit heute sei dagegen die Wahlfreiheit: „Nicht, dass man sich für das eine oder das andere entscheiden kann – dass ich mich für mich entscheiden kann. Wir haben uns gerade erst entdeckt.“
Für das HAU entwickelte er die Videoinstallation „Cross Infection: From Masses … to Masses“, die auf diese Erfahrung referiert, wenn sie Aufnahmen marschierender uniformierter Schulkinder Bildern heterogenen Stadtlebens gegenüberstellt: ein Junge, der minutenlang seine Frisur im Schaufenster richtet, eine Gameshow im Fernsehen unter einem improvisierten Zeltdach. Herzstück von „Cross Infection“ ist der 32-minütige Film „Symptom“, der mit einer an Lars von Triers „Dogville“ erinnernden Künstlichkeit Arbeiter und Angestellte auf einer großen Bühne nebeneinander ihre Tätigkeiten verrichten lässt und durch eine immer wieder abreißende Tonspur auf die Unvereinbarkeit des Gleichzeitigen verweist.
Wang Jianwei und der Dokumentarfilmer Wu Wenguang haben ihren Blick auf China entscheidend verändert, sagt Carena Schlewitt, Kuratorin des Festivals. „Weil sie darauf beharren, dass das, was sich dem Westen als Turbokapitalismus zeigt, manchmal nichts als Stillstand ist, und dort, wo wir nichts sehen, eine Menge passiert.“ So gingen eben vom international erfolgreichen chinesischen Film und der für Höchstsummen gehandelten bildenden Kunst keine Impulse mehr aus. Alle wesentliche Veränderung, so Wus überraschende These, starte bei der als Modernisierungsverlierer abgestempelten Landbevölkerung. Sein „Chinese Villagers Project“, das Amateurfilmer mit Kameras versorgte, zeigt beispielsweise, dass dörfliche Selbstverwaltung demokratische Wahlen selbstverständlich einschließt.
Das Interesse an der Lebenswelt der Land- und Migrationsarbeiter ist auffällig in den gezeigten Arbeiten. Und dabei keineswegs selbstverständlich, wo doch Maos Zwangsverschickung von Millionen „Rechtsabweichlern“ und „Jugendlichen mit Schulbildung“ aufs Land das Verhältnis zwischen Intellektuellen und Bauern gründlich getrübt hat. Die schönste und irritierendste Arbeit in diesem Zusammenhang ist „Utopia Factory“ von Cao Fei. Sechs Monate hat die Künstlerin Arbeiter der Osram-Fabrik in Foshan begleitet. Ihr Video dokumentiert in einem ersten Teil die extrem konzentrierte und stupide Arbeit der Glühbirnenfabrikation. Im zweiten Teil halten Märchenelemente Einzug: Der Wächter beginnt durch die Reihen zu tanzen, zwischen den Glühfädenkontrolleurinnen sitzt ein Engel. „My future is not a dream“ heißt der dritte Teil, der die Arbeiter stumm portraitiert; im vierten erzählen sie dann, wie wenig sie sich dieses Leben erträumt haben. Geschichten unfassbarer Entsagung und beschämender Bescheidenheit: „In a world like this I should be satisfied.“
Auch die darstellenden Künste arbeiten mit Dokumentation. „Together“ lässt sechs Frauen auf der Bühne ihre Geschichte erzählen; das Living Dance Studio aus Peking vertanzt Erfahrungen mit Sars und Geburten im Land der Ein-Kind-Politik. Ästhetisch sind sie dem Betrachter weniger fremd als allzu vertraut; doch begleitende Gespräche sollen helfen, die Arbeiten aus ihrem Kontext zu begreifen.
In seinem erhellenden Eröffnungsvortrag legte François Jullien die grundlegenden Differenzen zwischen dem alten chinesischen und dem aus der griechischen Philosophie geborenen westlichen Denken dar. Da selbst universal erscheinende Konzepte wie Sein, Zeit und Glück im Asiatischen als solche nicht existierten, sei dieses Denken für uns seit jeher „beunruhigend“.
Aktuelle Anknüpfungspunkte sind also im HAU persönlich zu erforschen. Dass sie existieren, bewiesen die Konzerte der chinesischen Indieband Joyside und der Berliner Formation Albtraum der roten Kammer: aus dem Publikum kamen langanhaltende, cross-kulturelle Mädchenschreie.