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Archiv-Artikel

Besser spät als nie!

Vor 19 Jahren lief der polnische Bahnarbeiter Jan Grzebski vor einen Zug und fiel ins Koma. Nun ist er wider Erwarten aufgewacht – und muss sich in einer veränderten Welt zurechtfinden

DAS WAR 1988

13. Februar Die olympischen Winterspiele in Calgary, Kanada beginnen 16. März Giftgasangriff der irakischen Luftwaffe auf Kurden und Assyrer 11. April „Der letzte Kaiser“ gewinnt 9 Oscars 25. Juni Die Niederlande werden Fußball-Europameister: Sie gewinnen 2:0 gegen die UdSSR 28. August Flugschauunglück von Ramstein 21. Dezember Eine Boeing 747 der amerikanischen Fluggesellschaft Pan Am stürzt aufgrund einer Bombenexplosion über Lockerbie ab

AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER

Jan Grzebski schlägt die Augen auf. Nach 19 Jahren im Koma ist der heute 65-Jährige wieder aufgewacht. Noch kann der schlanke Mann mit den lustig zwinkernden Augen nicht laufen und nur undeutlich sprechen. Doch mit jedem Tag wird es besser.

Seit Mitte April ist er wach, übt seine Sprache, reckt die Gliedmaßen und entdeckt eine völlig neue Welt: Polen ohne Kommunismus, Handys, das große Warenangebot in den Geschäften. „Mein Gott, hat sich diese Welt verändert!“, wundert er sich immer wieder. In der kleinen Wohnung der Grzebskis im nordpolnischen Działdowo tummeln sich Verwandte, Freunde, Nachbarn und Journalisten. Der Fernseher läuft fast ununterbrochen. Grzebski interessiert sich für das Weltgeschehen. Er will das neue Jahrhundert begreifen, Polen in der EU und Nato, das neue demokratische System, die boomende Wirtschaft.

1988 wurde der Bahnarbeiter bei Gleisarbeiten von einem Zug erfasst und fiel ins Koma. Die Ärzte gaben ihn nach kurzer Zeit auf. Höchstens zwei oder drei Jahre werde er noch leben, hieß es. „Ich habe das nicht geglaubt, ihn nach Hause geholt und ihn hier gepflegt“, erzählt seine Frau Gertruda (63). „Ich war fest überzeugt, dass er wieder aufwachen würde.“ Die Zeiten damals waren schwer. Vor den Läden standen die Kunden in langen Schlangen an, zu kaufen gab es oft nicht mehr als Essig und Fischkonserven, es regierte General Wojciech Jaruzelski. Die gelernte Schneiderin stand plötzlich mit vier kleinen Kindern und einem gelähmten und bewusstlosen Mann da. Sie musste die Pflege lernen, vor allem das richtige Lagern, um Druckgeschwüre durch Wundliegen zu verhindern.

Füttern, Windeln wechseln und tägliche Gymnastik sollten ihren Mann körperlich einigermaßen fit halten, Gespräche, Fernsehen und Anteilnahme am täglichen Leben sein Wiederaufwachen ermöglichen.

Die Frage, ob man Komapatienten „abschalten“ soll, stellt sich bei Jan Grzebski nicht, da er nie an Apparate angeschlossen war. Der Fall des wieder aufgewachten Bahnarbeiters nährt aber bei vielen Polen Ängste vor den Schulmedizinern, die den Bahnarbeiter nach seinem Unfall längst aufgegeben hatten.

„Ich habe nicht geschlafen“, meint Jan Grzebski heute. „Es drang alles zu mir durch. Nur konnte ich mich überhaupt nicht bemerkbar machen. Am Anfang fühlte ich nur Wut und Trauer. Dann musste ich mich damit abfinden. Was blieb mir anderes übrig?“ Er entsinne sich an viele Ereignisse, so an den Tag, als ihm seine erste Enkelin auf den Schoß gesetzt wurde. „Sie war so winzig, saß auf meinen Knien – und ich hatte entsetzliche Angst, dass sie herunterfallen könnte. Ich hätte sie doch nicht halten können.“

Vor sechs Jahren, erzählt er den überraschten Besuchern, habe er das Rauchen aufgegeben. „Vor dem Unfall habe ich bis zu 40 ‚Sport‘ am Tag geraucht, später hatte ich auch Lust auf meine Glimmstängel.“ Seine Frau spürte, wenn es ihn nach einer Zigarette verlangte. „Ich bin dann in die Küche gerannt, habe eine Zigarette geholt, sie angesteckt und ihm in den Mund gesteckt. Aber einen echten Lungenzug, so wie früher, konnte er nicht nehmen.“

Kein „echtes“ Koma?

Ärzte in Polen sprechen von einem medizinischen Wunder. Der Chef der Neurochirurgischen Klinik in Warschau, Professor Mirosław Ząbek, erklärt allerdings: „Jan Grzebski lag nicht in einem echten Koma.“

Denn Menschen, die in einem echten Koma lägen, seien bewusstlos. Ihr Gehirn nehme keine Reize von außen auf und reagiere auch nicht. „Meist müssen diese Menschen künstlich beatmet und ernährt werden.“ Ungewöhnlich im Fall Grzebskis sei aber, dass er sich nur wenige Monate nach dem Wiederaufwachen bewegen und sogar selbstständig sitzen könne. „Und dies nach 19 Jahren Bewegungslosigkeit! Das verdankt er alleine seiner Frau und ihrer ganz außergewöhnlich guten Pflege“, so Ząbek.

Mehr als ungewöhnlich sei, dass Grzebski in den vergangenen 19 Jahren die Sprache nicht vergessen habe und mit jedem Tag besser rede. „Das ist ein wirklich großes Geheimnis.“