piwik no script img

Archiv-Artikel

Suren-Bingo für Fortgeschrittene

THESE Gehört der Islamische Staat zum Islam? Natürlich

VON DENIZ YÜCEL

Ende September veröffentlichten 126 muslimische Gelehrte einen offenen Brief an den „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi und seine Anhänger. Eine theologische Kritik in 24 Punkten, in der jedoch eines fehlt: die sonst gebetsmühlenhaft wiederholte Aussage, der Islamische Staat habe nichts mit dem Islam zu tun.

Klar, wer die Sympathisanten des IS überzeugen will, darf sie nicht verprellen. Aber dahinter steckt mehr: Zu den Vorwürfen an die Dschihadisten gehört, dass diese – so wie alle Salafisten und andere religiöse Erweckungsbewegungen – in exzessiver Weise andere Leute beschuldigen, vom wahren Glauben abzufallen. Die Gelehrten entgegnen, dass jeder, der sich zum Islam bekenne, als Muslim zu gelten habe. Diese Feststellung aber gilt natürlich auch für die Kämpfer des Islamischen Staates.

Es ist eine innermuslimische Auseinandersetzung, die hier geführt wird: Man streitet über die Deutung des Korans und der Hadithen, die Überlieferungen des Propheten, und wendet sich an ein Publikum, das zum Teil mit dem Islamischen Staat sympathisiert. Der wiederum rechtfertigt seine Taten mit Koran und Hadithen. Die Härte gegenüber Andersgläubigen und den vermeintlich vom Glauben Abgefallenen, die Kreuzigung und Enthauptung von Feinden, die Versklavung jesidischer Frauen und Kinder, Menschen ohne „Buchreligion“ – für all das finden sich entsprechende Textstellen.

Der Koran versteht sich als Gottes Wort, durch den Erzengel Gabriel Mohammed offenbart und von Mohammed verkündet. Gottes Wort ist also auch: „Tötet die Götzendiener, wo immer ihr sie findet!“ (Die Reue, 9:5) Mit dem „Schwertvers“ und ähnlichen Passagen kann man sagen: Der Islam ist eine kriegerische Religion. Weshalb dieser Vers bei Dschihadisten so beliebt ist wie bei Hobbyislamkritikern aus dem Internet.

Doch im Koran steht auch: „Es gibt keinen Zwang im Glauben“ (Die Kuh, 2:256). Dieser Vers ist ebenfalls ein Klassiker der Islamdebatte und wird natürlich auch im offenen Brief erwähnt. Mit solchen Stellen kann man wiederum von einer friedliche Religion sprechen. Suren-Bingo: Was immer Sie über den Islam sagen wollen, Sie werden im Koran die passende Stelle finden.

Diese Widersprüche erklärt der Koran mit der Abrogation, der Aufhebung älterer Vorschriften durch jüngere. Beim Alkoholverbot etwa ist eine klare Linie zu erkennen, von der Lobpreisung des Weines als Zeugnis der Schöpfung (Die Bienen, 16:67) bis zum Gebot, Alkohol als „Werk des Satans“ zu meiden (Der Tisch, 5:90). Angeordnet sind die Suren nicht chronologisch, sondern der Länge nach.

Bei anderen Themen hingegen ist die Abfolge weniger eindeutig. Zum Beispiel, wenn es um die Aufforderung zum Dschihad, zum Heiligen Krieg geht. So gehört die Sure 2 mit dem „Toleranzvers“ zu den späten, die Sure 9 mit dem „Schwertvers“ aber wurde noch später, nämlich als vorletzte verkündet. Insgesamt sind die frühen Suren aus Mekka theologischer und toleranter, während die späteren aus der Zeit, in der der Islam in Medina zur Herrschaftsreligion aufgestiegen war, tendenziell kriegerischer und intoleranter ausfallen. Einige Auslassungen über den Krieg kann man defensiv deuten („Und tötet sie, wo immer ihr auf sie trefft, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben“, Die Kuh, 2:191), andere lesen sich als Aufforderung zum Eroberungs- oder Bekehrungskrieg.

Das Christentum hat fast 400 Jahrhunderte gebraucht, bis es von einer jüdischen Sekte zur Staatsreligion aufstieg. Erst danach folgten theologische Rechtfertigungen für Krieg und Gewalt, beginnend mit dem Kirchenvater Augustinus: „Die Kirche verfolgt aus Liebe, die Gottlosen aus Grausamkeit.“ Anknüpfungspunkte fand man in einigen blutrünstigen Stellen des Alten Testaments oder in Jesus’ Wort, er sei „nicht gekommen Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ (Mt 10,34). Dennoch kann man sagen: Wer mit dem Neuen Testament Krieg führen will, muss interpretieren. Wer mit dem Koran Krieg verurteilen will, muss interpretieren.

Vom Ergebnis betrachtet ist dieser Unterschied allerdings irrelevant. Denn Religion ist immer Interpretation; auch die vulgäre Buchgläubigkeit der Salafisten (und der „Islamkritiker“) ist nur eine Auslegung. Schon in der klassischen Koranexegese gab es einen Streit darum, ob der Dschihad als Angriffskrieg oder nur als Verteidigungskrieg zu verstehen sei. Und es entwickelte sich die nichtmilitärische Deutung: der „Große Dschihad“ als innere Anstrengung um ein tugendhaftes Leben.

Zum Streit um die richtige Interpretation lädt der Koran ausdrücklich ein. So heißt es in Sure 3:7, der Koran bestehe aus „eindeutigen Versen“ und „anderen, mehrdeutigen“. Auf diesen Hinweis und auf einen Hadith, wonach jeder Koranvers sieben Ebenen habe, beruft sich die islamische Mystik. Die Suche nach den verborgenen Botschaften des Korans – Suren-Bingo für Fortgeschrittene.

Der Islam reicht von Denkern wie Ibn Sina und Ibn Rushd, die den Islam mit der aristotelischen Philosophie in Einklang bringen wollten, bis zu Strömungen wie dem Alevitentum, das Kopftuch und Alkoholverbot ablehnt. Man kann mit dem Koran den Kapitalismus rechtfertigen oder für den Kommunismus kämpfen, Schwule verfolgen oder sich für deren Rechte einsetzen. Und so weiter.

Neben allen Schulen und Konfessionen, Gelehrten und Theoretikern gibt es das, was Gramsci „Alltagsbewusstsein“ genannt hat: Individuelle Auslegungen, in denen sich Versatzstücke aus Religion, Weltanschauung und Normen verbinden, sich die Gläubigen also das heraussuchen, das sie wollen, und den Rest historisieren oder ignorieren.

Der Islam ist weder eine friedliche noch eine kriegerische Religion. Der Islam ist die Summe dessen, was die Gläubigen daraus machen. Der Dschihadismus gehört dazu. Leider.