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Archiv-Artikel

Steinfest denkt

Manchmal ist ein Schriftsteller ganz schnell. Heinrich Steinfest war Augenzeuge der Montagsdemonstration vom 20. Juni. Sofort danach setzte er sich an den Schreibtisch und formulierte seine Gedanken für die Kontext:Wochenzeitung. Ein subjektiver Blick

von Heinrich Steinfest

Ach, die Wahrheit! Luther erklärt in seinen Tischreden: „Der Wein ist stark, der König stärker, die Weiber noch stärker, die Wahrheit am allerstärksten.“ Da hat er nun wirklich recht. Dumm nur, dass die Wahrheit schwer einzufangen ist und sie zudem überaus sensibel auf ein einziges falsch verwendetes Wort reagiert. Sie versteckt sich wohl darum so geschickt, weil sie aus Erfahrung weiß, wie gerne man sie missbraucht, verstümmelt, in ihr Gegenteil verkehrt. Viele Leute tun so, als seien sie mit ihr verheiratet, ohne auch nur einmal ihrer ansichtig geworden zu sein.

„Ich war dabei!“, sagen Menschen, wenn sie ihren Anspruch auf die Wahrheit geltend machen. Aber was heißt das denn, dabei gewesen zu sein?

Als ich im Anschluss an die Montagsdemonstration mit anderen „Flaneuren“ zum Südflügel marschierte und mir einen Vortrag von Dr. Norbert Bongartz zur architektonischen Bedeutung ebendieses Flügels anhörte, bemerkte ich natürlich die in meinem Rücken stattfindenden „Unruhen“, die zur Besetzung des sogenannten Grundwassermanagements führten. Ich vernahm die Explosion eines Böllers, drehte mich um und erkannte die daraus resultierende Rauchsäule. Erregung, Pfiffe, Rufe!

Na, im Grunde hätte ich mir auch ein abstraktes Gemälde anschauen können. Zu behaupten, ich sei dabei gewesen, ich hätte gesehen, was geschehen war, wäre lächerlich und unlauter. Hätte jemand anderer, der näher stand, behauptet, der Knallkörper sei von einem kleinen grünen Männchen, einer Elfe oder einem aufrecht gehenden Wolf geworfen worden, ich hätte es nicht zu entkräften gewusst, außer Argumente der Logik bedienend, welche jedoch nicht zwangsläufig zur Wahrheit führen, sondern bloß ausschließen, dass es aufrecht gehende Wölfe gibt (und nicht einmal das ist ganz sicher). Nein, obgleich ich scheinbar „Zeuge“ eines Geschehens wurde, war ich wie viele andere Menschen gezwungen, mich hernach in den Medien kundig zu machen, nachzulesen, nachzuschauen, nachzuforschen, näher an das Vergangene zu gelangen, um mir aus vielen schiefen Bildern ein gerades zu formen.

Handy-Aufnahmen kritisch betrachten

Richtig, auch Journalisten sind selten mit der Wahrheit verheiratet, ja, es scheint, als würde die Wahrheit mit einer diesbezüglichen Phobie ausgestattet sein. Nun, die Aufgabe der Journalisten besteht ja auch gar nicht darin, richtige Antworten zu geben, sondern vielmehr richtige Fragen zu stellen, gleich, ob sie dabei waren oder nicht. Die geneigten Leser können dann selbst die Antworten entwickeln. Sie sind vielleicht nicht ganz so dumm, wie man gerne hätte.

Nun leben wir freilich in einer Zeit, in welcher jeder Akteur einer Handlung dank der winzig kleinen, hauchdünnen Handys, mit denen man mehr fotografiert und filmt als telefoniert, zum eigenen Berichterstatter werden kann. Natürlich, auch dies kann zur Lüge verführen, indem man zeigt, was man zeigen möchte, und anderes ausblendet. Und trotzdem: die kritische Betrachtung solcher Bilder kann hilfreich sein, vor allem als Kontrapunkt zu den Bildern der professionellen Presse, die ja auch ganz gerne zeigt, was sie zeigen möchte, und anderes ausblendet.

Die Summe der Bilder, die Widersprüche, die sich daraus ergeben, helfen, gewisse Fragen zu stellen. Wenn etwa von verletzten Polizisten gesprochen wird und man dann sieht, wie der Knallkörper inmitten der Demonstranten explodiert, während die betroffenen Polizisten mit großer Gelassenheit mal kurz hinüberschauen, darf man fragen, ob es sich bei den acht „verletzten Polizisten“ tatsächlich um eine Traumatisierung oder nicht eher um eine Dramatisierung handelt oder eben doch um ein Faktum, dessen rätselhafte Aura ernsthafte Journalisten dann aber erst einmal aufklären müssten. Wie auch der Widerspruch zu untersuchen wäre, der sich aus zwei Aspekten ergibt: einerseits eine in der Tat höchst besonnene, im besten Sinne des Wortes souveräne Polizei, andererseits das Agieren eines bewaffneten Zivilpolizisten inmitten der Demonstranten.

Vor Verschwörungstheorien sollte man sich in Acht nehmen

Ich weiß schon, man soll sich vor Verschwörungstheorien in Acht nehmen, aber wie oft hat sich in der nachträglich verifizierten Bestandsaufnahme die „Theorie“ als historische Wahrheit herausgestellt. In alle Richtungen. Nein, auch hier muss gelten, die richtigen, die sich aufdrängenden Fragen zu stellen. Auch, und erst recht, wenn man Journalist der Stuttgarter Zeitung ist, eines Presseorgans und nicht eines Polizeiberichtabschreibervereins. Einer Zeitung, die ich weiterhin für eine überaus wichtige halte, die gerade dabei war, sich einen verloren gegangenen Ruf zurückzuerschreiben, und ihn nun erneut riskiert.

Keine Frage, nicht nur die Liebe, auch die Gewalt liegt im Auge des Betrachters. Aber dort, wo Gewalt entsteht, muss ein kritischer Betrachter auch die Entwicklung dieser Gewalt nachvollziehen können, ihre Zwangsläufigkeit, ihren virologischen Hintergrund, muss erkennen, wie Eskalationen entstehen, wer brandstiftet, wer bereit wäre, zur Durchsetzung seiner Interessen jegliches Mittel einzusetzen.

Aber man muss eines festhalten: Wenn Menschen Baumaschinen und Baumaterial beschädigen, also „Gewalt gegen Gegenstände“ praktizieren, ist dies eine Reaktion auf Baumaßnahmen, die ja nun ebenfalls und ebenso zwangsläufig „Gewalt gegen Gegenstände“ darstellen: den Bahnhof, die Bäume, das Wasser. Es ist tendenziös, die Gewalt, die sich aus einer auf sträfliche Weise unkontrollierten und für kriminelle Einmischungen anfälligen Bauwirtschaft ergibt, zu negieren und dann mit erhobenem Zeigefinger die Demolierung von Rohren zu beklagen.

Gewaltfreiheit ist ein schönes Wort, nur sollte es eben für alle gelten. Das konnte man bestens sehen, als im letzten Jahr der Nordflügel nicht Stein für Stein „schonend zurückgebaut“, sondern brachial zerstört wurde. Wenn ich dieser Bahnhof wäre, würde ich eindringlich bitten, beim nächsten Mal nicht einfach nur dabeizustehen und zuzusehen. Nun, ich bin kein Bahnhof und rufe ängstlich besorgt zum Friedlichbleiben auf.

Doch nicht allein zum Streit, auch zum Frieden gehören immer zwei. Dies ist die Natur der Dinge. Selbige ignorieren dürfen die, die Partei sind und sich nicht zuletzt in einer Propagandaschlacht befinden, wo das Monster immer der andere ist – aber ganz sicher nicht unabhängige, zur Klugheit verdammte Journalisten. Von welchen ich erwarte, sich weniger in Betroffenheitsfloskeln oder der Literarisierung ihrer Spaltungsfantasien zu ergehen, sondern Hinweisen zu folgen, die eine Beteiligung der kalabresischen Mafia am S-21-Projekt nahelegen. Oder hat man Angst, auf eine Gewalt zu stoßen, die wohl ein bisserl heftiger ausfallen dürfte als das Umwerfen von Zäunen? Hat man Angst, dass der Begriff des „Baurechts“, der Begriff des „unterschriebenen Vertrags“ sich bei genauer Betrachtung als manipulativ-gewaltvoller Umgang mit dem Reglement des Rechtstaates erweist?

Kurz: die Schwierigkeit mit der Wahrheit ist immer, dass sie niemals nackt ist, immer angezogen. Aber wir alle haben die Pflicht, zumindest das Kostüm, das sie trägt, richtig zu beschreiben und nicht mit ihr zu verfahren, als wäre sie eine willfährige Barbiepuppe, der jeder eine beliebige Tracht überziehen kann.

Gutes Benehmen für eine würdevolle Protestkultur

Vielleicht darf ich zum Schluss noch eine Überlegung anfügen, die aus meiner Augenzeugenschaft resultiert.

Ich sehe die Notwendigkeit, in jeder Situation eines walten zu lassen: gutes Benehmen. Denn die Besetzung eines Geländes mag eine folgerichtige, vielleicht sogar eine unerlässliche Konsequenz darstellen, sie schließt aber keinesfalls die Wahrung guten Benehmens aus. So ist es würdelos, wenn die auf dem Dach stehenden Besetzer mit den Füßen Regenwasser auf die aufmarschierende Polizei befördern. Auch in der politischen Auseinandersetzung, gerade in ihr, müssen die Sekundärtugenden aufrechterhalten werden. Niemand sollte sich ein Beispiel etwa am ungehobelten Benehmen von politischen Mandatsträgern während parlamentarischer Sitzungen nehmen (es soll bereits Eltern geben, die in solchen Momenten zu ihren Kindern sagen: „Schau weg!“).

Ich meine, es wird für eine erfolgreiche Protestbewegung von wesentlicher Bedeutung sein, sich weniger in ständigen Distanzierungsbemühungen zu üben (à la Nein, nein, ich bin nicht für Gewalt, ehrlich!), als eine würdevolle Protestkultur mit einem Kodex des Benehmens zu entwickeln, der in schwierigen Situationen unbedingt einzuhalten ist – je schwieriger, umso unbedingter. Und sich keinesfalls zu überlegen, demnächst sicherheitshalber am Rand der Stadt zu demonstrieren, fern der Zäune, fern der Objekte und Wesen, fern eines „Organismus“, der ja niemanden hat außer den Demonstranten.

Zusammen mit der Friedrich-Ebert-Stiftung wird Heinrich Steinfest, aktiver S-21-Gegner, am Donnerstag, 21. Juli, in der Stuttgarter Liederhalle zu einer „Publikumsbeschimpfung“ antreten. Ab 19 Uhr dürfen sich dabei die „Zornbürger“ von der Stuttgarter Halbhöhenlage und sonstige Interessierte von Steinfest beschimpfen lassen.