Ein Vierteljahrhundert Anfang

VERWEIGERUNG Die Rote Flora hat sich einer neuen, emanzipatorischen Kommunikation verschrieben, die von außen nicht immer leicht zu entschlüsseln ist. Auch deshalb ist sie nicht der Darling des Feuilletons – zumal es inzwischen andere Akteure gibt, die das Unbehagen an der Stadtentwicklung in griffige Bilder fassen, aber gleichzeitig Partner des politischen Establishments sind

■ 47, studierte Philosophie und Sozialwissenschaften in Hamburg, Berkeley, Kassel und Maastricht, schreibt über kritische Theorie, Ästhetik und Popkultur; er wohnt in Hamburg.

VON ROGER BEHRENS

Am 1. November 1989 werden an der Straße Schulterblatt im Hamburger Schanzenviertel die Reste des genau ein Jahrhundert zuvor eröffneten „Gesellschafts- und Concerthaus Flora“ besetzt, der Geburtstag des seither „Rote Flora“ genannten – ja, was ist es eigentlich? – damals sagte man noch selbstverständlich: autonomen, linksalternativen Stadtteilkulturzentrums. Das war vor fünfundzwanzig Jahren.

Aber ist es ein Jubiläum, das gefeiert wird? Um die Rote Flora ist es anlässlich des Jahrhundertviertels relativ still, dafür, dass seit 2009 die Räumungsdrohung immer mal wieder virulent und akut ist und die Unterstützung der liberalen Medien-Öffentlichkeit für das dissidente Haus mittlerweile aufgekündigt scheint, obwohl man ansonsten durchaus große Sympathien für die Belange gentrifizierungskritischer Kulturinitiativen hegt.

Das ist allein schon signifikant, denn hier spiegelt sich, wie es nunmehr um die Solidarität mit der Roten Flora bestellt ist, wer sich mit welchen Absichten mit der Roten Flora solidarisiert, was Solidarität – einst noch wichtigster Kampfbegriff – eigentlich bedeutet, heute und überhaupt; hier spiegelt sich überdies Hamburger Politik, vor allem die in den letzten Jahren zwar großkotzige, aber im Resultat – selbst unter rein profitwirtschaftlichen Gesichtspunkten – verfehlte Stadtentwicklungspolitik.

Stand noch zur Jahrtausendwende die Rote Flora im Zentrum jedweder ernst gemeinten linkspolitischen Aktivität, so scheint sie gegenwärtig bloß noch Annex zu sein, neben dem Haus 73, das zwar kommerziell ist, aber der Flora dennoch ästhetisch und gelegentlich auch inhaltlich ins Gehege kommt, und gegenüber der aufgerüschten Kaffeemeile „Piazza“; vielleicht sogar eine Ruine, abbruchreif.

Jedenfalls scheint das dem offiziell propagierten Meinungsbild zu entsprechen. Die Zeit hat es Anfang des Jahres vorgemacht, schickte eine Jungjournalistin und ihren Starreporter aus. Und die wussten keck und welterfahren: „Die steigenden Mieten in den Städten, Europas Abwehr von Flüchtlingen aus Afrika – es sind ja nicht nur Linksradikale, Autonome und Hausbesetzer, die daran gerne etwas ändern würden.“ – „Aber wie?“, fragten sie dann trivialleninistisch die „Autonomen“ der Roten Flora, und versuchten mit „Hamburgs radikaler Szene ins Gespräch zu kommen“. Der Versuch scheiterte. Sie hatten in ihrer nassforschen Neugier nicht in Betracht gezogen, dass es nach wie vor für die Flora keinen Grund gibt, ein solches Gesprächsangebot anzunehmen, geschweige denn, selbst zu machen.

Das ist aber das Disparate, was heute, nachdem das Gängeviertel sich als solider Verhandlungspartner der Stadt erwiesen hat, der Hamburger Durchschnittsmeinung ein Dorn im Auge sein soll, und ein Schandfleck im aufgehübschten Schanzenviertel: dass da in der Roten Flora Leute etwas tun, was sie tun wollen, ohne Not, sich darüber permanent mit Gott und der Welt verständigen zu müssen. Was geklärt werden muss, wird im Plenum geklärt, und nicht im Feuilleton. Und das behagt dem Feuilleton freilich nicht.

Auch wenn es altbacken klingt: Hier beweist sich, dass die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, und dass sie von Siegern geschrieben wird. Sieger sind die „Rot-Floristinnen“ nicht, jedenfalls keine der Geschichte, auch nicht der Stadtgeschichte. Die Sprache, in der Geschichte geschrieben wird, ist Herrschaftssprache. Seit 1989 versuchen sie in der Flora, eine andere Sprache zu sprechen: nicht immer kommunikativ, nicht immer deutlich.

Die eigene Geschichte der Roten Flora ist ein bisschen aus dem Bild der Gegenwart herausgerutscht; zum Glück gibt es ein Archiv und Anekdoten. Erinnerungen daran liegen allerdings in der linken beziehungsweise linksradikalen Bewegungsgeschichte oft selbst versteckt, verborgen. Mithin reichen ihre Spuren weiter zurück als fünfundzwanzig Jahre.

Zwischen Cholera und Amüsierviertel

Als 1889 die Pforten des „Gesellschafts- und Concerthaus Flora“ geöffnet wurden, prosperierte das Kaiserreich; im Zeitalter des Imperialismus war Hamburg Handelsmetropole. 1892 wütet die Cholera, die sozialen Widersprüche verschärfen sich, die Hansestadt war vom Klassenkampf gezeichnet: Im Winter 1896/97 geriet der Hafenarbeiterstreik zu einem der größten Arbeitskämpfe im Kaiserreich.

Derweil übte sich die Hamburger Ober- und Mittelschicht im kulturellen Vergnügen; die Gegend um das „Concerthaus Flora“ war damals bereits eine Hochburg des Amüsements; beliebte Lokale waren etwa an der Ecke Juliusstraße die „Zauberflöte“ oder, gegenüber der Flora, die „Skatdiele“. Am anderen Ende des Schulterblatts, am Pferdemarkt, hatte damals Hagenbecks Tierpark sein Areal.

Einen regelrechten Kulturboom erlebte das Schanzenviertel nach dem Ersten Weltkrieg. Zahlreiche Kaufhäuser und große Läden belebten auch das Konsumgeschäft. Im Nationalsozialismus werden die Unternehmen „arisiert“; von der jüdischen Kultur im Schanzenviertel zeugen heute die vielen in die Wege eingelassenen Stolpersteine.

Nach dem Zweiten Weltkrieg steht das Schulterblatt wie das Schanzenviertel und St. Pauli überhaupt kaum im Fokus des Wiederaufbaus. Das Schanzenviertel ist bis in die 80er-Jahre eine vom Krieg gezeichnete, unwirtliche Wohngegend. Dazwischen die noch immer recht prunkvolle Flora: Sie beherbergt zwischen 1953 und 1964 ein Kino mit immerhin 800 Plätzen. Dann residiert in dem Gebäude der Haushaltswarensupermarkt „1000 Töpfe“.

Während die zentrumsnahen Stadtviertel, zu denen auch das Schanzenviertel zählt, in den 1970er-Jahren von der Stadtflucht betroffen sind – wer es sich leisten kann, zieht ins Umland –, entdeckt nach und nach die Protestgeneration das Altbauviertel. Und in den 1980er-Jahren kommt hierher auch langsam die dazugehörige Kultur: Das Schanzenviertel ist nun ein alternativer Stadtteil. Junge Leute bevölkern damals das sogenannte Bermuda-Dreieck, bestehend aus den Kneipen „Pickenpack“ und „Zartbitter“ sowie der düsteren Mini-Diskothek „Stairways“; die ersten Imbissläden verkaufen Döner und Pide, auf den Straßen tobt der Punk.

Und politisch? In den Achtzigern ist Klaus von Dohnanyi Hamburgs Erster Bürgermeister. 1982 wird die Hafenstraße besetzt, auch im Schanzenviertel und auf St. Pauli organisieren und radikalisieren sich Stadtteilgruppen – so zum Beispiel die „Mieterinitiative Schilleroper Thadenstraße“; inspiriert von den Amsterdamer Kraakers thematisiert die radikale Linke nun erstmals die Wohnungsfrage auch unter Gesichtspunkten des – damals hierzulande noch unbekannten – Begriffs „Gentrifizierung“.

Schlagzeilen macht 1986 der Hamburger Kessel – 800 Personen werden zum Teil über 13 Stunden rechtswidrig auf dem Heiligengeistfeld von der Polizei festgehalten. Die militante Stärke der Autonomen versprach in den Achtzigern, dass es schon bald etwas werden könnte mit der Revolution. Spätestens die Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1989, schließlich die rassistischen Pogrome Anfang der Neunziger machten solche Illusionen zunichte.

1000 Töpfe ging 1987 aus dem Flora-Komplex raus, der Kulturmanager Friedrich Kurz wollte hier ein Musicaltheater errichten. Ein mit Abriss verbundener Umbau war geplant, um in der Flora Andrew Lloyd Webbers Musical-Version von Gaston Leroux’ „Das Phantom der Oper“ zur gewinnträchtigen Aufführung zu bringen. Dem Widerstand (nicht nur) im Stadtteil ist es zu verdanken, dass diese Pläne durchkreuzt wurden und aus dem Bau, der bis heute noch seine alte, gelbschwarze 1000-Töpfe-Fassade unter den vielen Bemalungen, Graffiti und Plakaten durchscheinen lässt, die Rote Flora wurde.

Die große kulturelle Verunsicherung

Von Anfang an war die Besetzung ein Projekt, und von Anfang an war dieses Projekt „politisch“ im Sinne auch einer kulturellen Bühne für die Hamburger Linke. Bezeichnend allerdings, dass eine Auseinandersetzung um „Kultur“ dabei kaum stattfand. Klar war, dass die „Kultur“, die hier geboten wurde, Subkultur war, subversiv und dissident. Es erübrigte sich quasi von vornherein eine Auseinandersetzung mit etwa den damals reüssierenden Musicals wie „Das Phantom der Oper“. Das kam bekanntlich ein paar Hundert Meter entfernt in der Neuen Flora unter, postmodern, aber funktional und rentabel.

Diskutiert wurde das Kulturelle dann nur im eigenen Horizont linker Ästhetik; die wandelte sich aber, nicht zuletzt im Zuge gesamtgesellschaftlicher Transformationen: Hamburger Schule, Diskurspop, die Veralltäglichung der Idee, dass das Private das Politische sei und vice versa et cetera gaben bisweilen der jetzt als Restlinke agierenden radikalen Linken den Anstrich des Hedonismus, konterkariert durch die kulturelle Neuordnung linker Repräsentationspolitik (vor allem in Bezug auf Nation und Gender).

Konkret hieß das: Die letzte parolenmäßige Eindeutigkeit von Punk, Hardcore und Diskussionsveranstaltungen wurde durch Hip-Hop, House und Techno irritiert. Aber mit den sogenannten Soundclashs und dem „Club der kulturell Verunsicherten“ war die Rote Flora plötzlich nicht nur mehr der Raum politischer Identität, sondern schlichtweg der Ort, an dem die besseren Partys stattfanden. Das hatte seine Zeit in den Neunzigern, und auch seine Unwegsamkeiten. Prügeleien, Mackerverhalten, Sexismus veränderten die Atmosphäre hier, machten die coole Flora sukzessive kühl und kalt. Gerade mit Blick auf die kulturelle Gemengelage wurde es in der Flora und um die Flora herum zunehmend disparat. Zudem: Was hier auf der Tanzfläche gut funktionierte, ließ sich ja auch anderswo finanziell erfolgreicher fortsetzen.

Doch die Rote Flora blieb ein widerständiger Ort, unversöhnlich, ein bisschen auch kommunistische Kirche im Dorf. Die Schäden des großen Brandes, der im November 1995 einiges an der Flora zerstörte, wurden weitgehend repariert, der Wiederaufbau hatte für den solidarischen Zusammenhalt im Viertel nachgerade auch symbolische Qualität. Damals fanden hier Flüchtige oder Obdachlose noch einigermaßen Schutz; alte Kneipen, neue Kneipen, ein Supermarkt, die größte Schallplattenladendichte in Europa, sympathische Ramschgeschäfte, heute längst ausgestorbener Fachhandel.

Ins neue Jahrtausend kommt die Flora mit der Hafenstraße und dem Freien Sender Kombinat, seit 1998 mit eigener Radio-Vollfrequenz; das sind die drei großen Bastionen linksemanzipatorischer Politik; dazwischen – eine Wagenburg namens Bambule. Ihre Räumung 2002 bedeutet auch für die Rote Flora einen politischen Höhepunkt, und zwar gerade in Hinblick auf die Gretchenfrage, die damals noch so selbstverständlich beantwortet wurde: „Flora bleibt!“

Ein Vermieter, der nie Miete sah

Seit März 2001 war das Gebäude an den Immobilienkaufmann Klausmartin Kretschmer verkauft, das Projekt Rote Flora sozusagen sein Mieter, der selbstredend keine Miete zahlte. Mit allerhand Wahnsinn und offenbar auch krimineller Energie versuchte der Unternehmer bis zuletzt seine Forderungen durchzusetzen: Immer wieder gab es in den folgenden Jahren Spekulationen über Rausschmiss, Umbau, Abriss, warmen Abbruch – oder Mietzahlungen. Es kam zu aberwitzigen Possen: Für einen Auftritt von Fettes Brot im November 2013 sollte die Flora 5.000 Euro „Nutzungsgebühr“ zahlen. 2.000 Leute kamen, alles war gut. Kretschmer brachte den Abend wegen „Hausfriedensbruchs“ zur Anzeige.

Nachdem Kretschmer seine Drohungen mit einem Räumungsultimatum verschärfte, gingen am 21. Dezember 2013 knapp 10.000 Menschen auf die Straße: „Die Stadt gehört allen! Refugees, Esso-Häuser und Rote Flora bleiben!“ Es kam zu einer stundenlangen Schlacht mit der Polizei, die St. Pauli zum Gefahrengebiet erklärte.

Dass die Stadt nun zum 1. November das Flora-Gebäude von Kretschmer zurückgekauft hat, stellt das Bild vom Burgfrieden nur schwach wieder her: Das Interesse des Hamburger Senats ist erst einmal nicht mehr als ein ökonomisches – Ruhe bewahren, die Rote Flora soll als „Touristenmagnet“ fungieren, wie es das Hamburger Abendblatt schrieb.

Ob die Solidarität mit dem Projekt Rote Flora auch in den kommenden Wochen, Monaten, Jahren auf die Hamburger (post-)bürgerliche Öffentlichkeit zählen kann, ist fraglich, sofern es ja um mehr geht als nur um ein buntes Gebäude und sein ebenso buntes Kulturprogramm. Es geht, wie auch aktuell eine Veranstaltungsreihe in der Flora nahelegt, um das grundsätzliche Verhältnis von Theorie und Praxis, einschließlich der fundamentalen Fragen: Das Recht auf Stadt, das hier reklamiert wird, ist keine Gesinnungsangelegenheit, die etwa freundlich zugesteht, dass es so etwas wie die Flora eben auch geben müsse.

Die Rote Flora ist auch nach 25 Jahren erst einmal nur der Anfang eines politischen Projekts, und mitnichten sein Ende.