: Preußische Nullemotionalität
RÜCKKEHRROMAN Kerstin Preiwuß lässt ihre Heldin ins Mecklenburg ihrer Kindheit reisen und transportiert Brutalität als ein Grollen im Familienhintergrund: „Restwärme“
Ordentlich auf den Deckel bekommen hat Kerstin Preiwuß vergangenen Sommer beim Ingeborg-Bachmann-Preis, wo die Leipziger Lyrikerin erste Passagen aus ihrem Prosadebüt „Restwärme“ gelesen hat. Das gelesene Kapitel über die systematische Vergasung von Nerzen in einer Pelzwarenfabrik war unvorteilhaft gewählt. Nicht nur wegen des starken, hier etwas überzogenen symbolischen Resonanzraums Schoah, der sich bei Jury und Publikum gleichermaßen auftat. Dementsprechend unverblümt polterte Jurymitglied Burkard Spinnen auch seinen Unmut heraus.
Unglücklich war die Wahl der Passage vor allem, da das Kapitel mit seinen drastischen Effekten und seiner expliziten Emotionalität in keiner Weise repräsentativ für diesen leisen, zurückhaltenden Text ist, der Brutalität zumeist als ein Grollen im Hintergrund transportiert.
Darin kommt die Geologin Marianne zur Beerdigung ihres Vaters zurück in die mecklenburgische Pampa ihrer Kindheit. Die Orte ihrer Kindheit hängen noch voller Erinnerungsweben, denen die Erzählung in Jojobewegungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit nachspürt. Einem Trauma häuslicher Gewalt mit einem jähzornigen Haustyrannen von Vater, dem der Korn aus Wassergläsern regelmäßig die Hand gelockert hatte. Der seiner Familie mit derselben preußischen Nullemotionalität begegnet, mit der er beruflich Nerze abmurkst. „Sie fragte sich, ob sie jetzt Trauer tragen müsse. Ihr war nicht danach.“
Umsichtig entfaltet die Autorin eine wackelige Beziehungsmatrix zwischen den Figuren Marianne, ihrem Bruder Hans und der Mutter, die sich wie gleichnamige magnetische Pole nicht nahe kommen können. Allesamt geschlagen mit der emotionalen Verkrüppelung, welche die elterliche Vernunftehe hervorgebracht hat. Vor allem durch lakonische Dialoge voller Spitzen, die sich als Relikte einer Kultur der Lieblosigkeit aus Mariannes Jugendzeit erhalten haben, entfaltet „Restwärme“ ein eisiges Familienklima, „eine Umklammerung, die nach außen wie eine Umarmung wirkte, der man den Würgegriff aber nicht gleich ansah“.
Durch Mariannes feinfühligen, beinahe autistischen Blick auf die heimische Flora und Fauna arbeitet der Roman die traumatische Erfahrung einer lieblosen Kindheit zusätzlich heraus. Die Naturschau funktioniert als schöne Gegenwelt zum hämatomharten Nest. Eine Fluchtstrategie in verbissener Konzentration auf alles in dieser Einöde, was nicht die eigene Familie ist.
Ein ganz feines Sensorium stellt Preiwuß hier unter Beweis, das sie gekonnt in eine abgekochte, leicht angestaubte Sprache überführt, die wie an diesem aus der Zeit gefallenen Flecken Mecklenburgs wiedergefunden scheint. Ob in dem „splittrigen Grün“ eines Gartenzauns, oder in Wasser, das glänzt „wie der Chitinpanzer eines Mistkäfers“ – immer wieder blitzt in gewogenen und gewählten Formulierungen hervor, dass die Autorin bisher mit Gedichtbänden auf sich aufmerksam gemacht hat.
Vielleicht sollte man diesen Rückkehrroman, von dessen gesetztem Sprachrhythmus irritierenderweise eine beruhigende Wirkung ausgeht, einfach nicht laut vorlesen. Vielleicht sticht der häusliche Horror in „Restwärme“ nur den, der ebenso leise und isoliert liest, wie Marianne und ihr kleiner Bruder eine Ameisenkolonie beobachten. Wie auch immer, es ist der großartige Roman einer Frau, der das Kettenhemd der Erinnerung die Worte abschnürt.
MORITZ SCHEPER
■ Kerstin Preiwuß: „Restwärme“. Berlin Verlag, Berlin 2014, 240 Seiten, 18,99 Euro