: … und wieder fällt die Mauer
FALL I Am Sonntag beim allgemeinen Erinnern an den Mauerfall vor 25 Jahren war die Stadt so voll, dass man sich beim Schlangestehen manchmal wie damals fühlen durfte. Nur ein paar Reichsbürger wollten nicht mitfeiern
VON M. BOLSINGER, J. ROSTAM UND B. SCHULZ
Ein bisschen ist es so wie damals: Provisorische Podeste entlang des einstigen Mauerstreifens, ein paar Stufen hoch, ermöglichen einen Blick auf viele weiße Ballons und „nach drüben“. Nicht überall allerdings ist „drüben“ Osten: Am Mauerpark zwischen Prenzlauer Berg und Wedding schaut man in Richtung Westen. Und, am Morgen dieses 25. Jahrestags des Mauerfalls, in leichten Nebel.
Helen und Moritz, die seit elf Jahren in Berlin leben und mit ihren beiden kleinen Kindern das Podest erklommen haben, sind eigentlich ganz glücklich über diese nachträgliche Markierung des einstigen Mauerverlaufs mit 7.000 Ballons. „Etwas skurril“ sei das zwar schon, meint Moritz. Aber durchaus „angemessen, um die Mauer zu verdeutlichen und Geschichte zu erklären“. Etwa ihrer vierjährigen Tochter, die nun zumindest eine grobe Ahnung davon habe, dass hier einst eine Grenze war.
Der Wind pfeift kalt, trotzdem laufen schon am Sonntagmorgen viele Menschen entlang der einstigen Grenze: Jogger, die ihre ursprüngliche Route wegen der Installation geändert haben, Touristen, viele aus dem Ausland, Spaziergänger mit Hund oder Kinderwagen. Wer die Gespräche der Passanten verfolgt, fühlt sich zurückversetzt in eine andere Zeit. „Am 10. November sind wir dort im Hauseingang gestanden“, berichtet ein etwa 70-Jähriger mit leichtem sächsischem Akzent, und zeigt auf ein Haus in der Eberswalder Straße. Er habe Angst gehabt, was wohl noch passieren würde.
Wenige hundert Meter weiter auf der Bernauer Straße in Richtung Nordbahnhof stehen Hunderte Menschen vor der Kappelle der Versöhnung und verfolgen die Liveübertragung des Gedenkgottesdienstes. Zuvor schon hatte der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) bei der zentralen Gedenkfeier zum 25. Jahrestag des Mauerfalls in der nahen Gedenkstätte an die Opfer des DDR-Regimes erinnert.
Wieder Schlange stehen
Die Stadt ist an diesem Sonntag voller Menschen, die sich an jenen innenstädtischen Orten ballen, wo Berlin einst zu Ende ging – von beiden Seiten. Am Checkpoint Charlie etwa muss man schon um halb elf Uhr anstehen, um dort überhaupt auf das Aussichtspodest zu kommen, berichtet die junge Frau, die hier Aufsicht macht. Schlange stehen, nur um eine Reihe Ballons anzuschauen – auch das klingt verdammt nach Zeiten, als es die DDR noch gab.
„Hier erlebe ich etwas, was man nicht mehr erkennen kann“, sagt Thomas Jouvenal. Der 52-jährige Westberliner ist mit der Mauer groß geworden, wie er sagt. 1994 ist er weggezogen und nun auf Besuch in der Stadt. Wenn er auf die „prägnante“ Grenzinstallation blickt, dann erkennt er darin auch die Mauer wieder – „die läuft mit im Hintergrund“, so Jouvenal.
Im Vordergrund stehen die Reste des Grenzwerks am Nachmittag bei einer Protestaktion der Clubcommission und einer Initiative an der East Side Gallery. Laute Techno-Beats wummern, an einem Stand werden Flyer verteilt, die sich gegen den nach Informationen der Initiative geplanten Abriss dreier weiterer Mauerstücke richten. „Die Kunst hier muss erhalten bleiben“, fordert Sascha Disselkamp, Chef der Clubcommission, „damit dieses Stück der Geschichte nicht aus dem Gedächtnis der Menschen verschwindet.“
Die Wiese vor dem Reichstag ist leer, hundert Meter von dem Gebäude entfernt bewachen Polizisten eine Absperrung. Dahinter, auf halber Strecke zum Parlament, haben zwei obskure Gruppen ihre Stände aufgebaut. Etwa 15 sich selbst so nennende Reichsbürger sprechen hier, inmitten der eigentlichen Bannmeile, der Bundesrepublik die Souveränität ab; daneben fordert eine andere Initiative Frieden und den Abgang von Bundeskanzlerin und -präsident. Am schräg gegenüber liegenden Bundeskanzleramt haben sich etwa 100 sogenannte Montagsdemonstranten zu einer „Mahnwache“ versammelt. Kurz vor 15 Uhr tritt ihr Maskottchen Jürgen Elsässer, einst Kommunist, inzwischen Rechtspopulist, auf. Er bezeichnet den Aufmarsch und die Randale von Hooligans in Köln vor zwei Wochen als „antifaschistische Demonstration“ – während rund 50 Gegendemonstranten „Halt die Fresse!“ rufen.
Ein anderer Protest von rechten Hooligans kam nur im Ansatz zustande. Die kurzfristig angemeldete Demonstration am Alexanderplatz wurde vom Anmelder ebenso kurzfristig wieder abgesagt. Zwischen den rund 30 dennoch angereisten Neonazis und rund 200 linken Gegendemonstranten gab es einige Rangeleien.
Andrang zum Bürgerfest
Von diesen politischen Wirrungen unbeeindruckt, strömen ab 14 Uhr Zehntausende Menschen zum „Bürgerfest“ ans Brandenburger Tor. An den Ständen gibt es neben Bier auch Steaks, Currywurst, Krakauer, Bratwurst, Thüringer und sogar Berliner „XXL-Buletten“, Toilettenbenutzung kostet 50 Cent. Nach und nach betreten immer bekanntere Künstler und Bands die drei Bühnen vor dem Tor. Höhepunkte sollen – nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe – die Auftritte von Udo Lindenberg, Peter Gabriel und Daniel Barenboim samt Staatskapelle sein.
Am Abend sollte sich auch die Kurzzeitmauer in Luft auflösen: Die nun mit Helium gefüllten Ballons sollten, einzeln und von Hand losgelöst, in den Berliner Himmel entschwinden. Auf dass die Mauer wieder falle.