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Archiv-Artikel

Osteuropa feiert in Bremen

Mehr als tausendfünfhundert Jahre europäische Geschichte waren gestern im Bremer Rathaus versammelt: 20 alte Männer und Anna Sabatova, eine Frau der mittleren Generation im Kreis der Männer, die für die Freiheitsgeschichte Osteuropas stehen. Sie alle waren nach Bremen zum 25-jährigen Jubiläum der „Forschungsstelle Osteuropa“ gekommen, um den guten Geist dieses Instituts, Wolfgang Eichwede (65), zu ehren.

Milos Hajek (Jahrgang 1921) war da, der von den Nazis zum Tode Verurteilte, der nach der Niederschlagung des Prager Frühlings aus der Universität Prag hinausgeworfen wurde, einer der ersten mutigen Unterzeichner der „Charta 77“. Oder Bronislaw Geremek (Jahrgang 1932), 1980 intellektueller Berater der Oppositionsgewerkschaft Solidarnosc, 1981 verhaftet und interniert, heute angesehener Abgeordneter des Europäischen Parlaments. Oder Sergej Kovalev (Jahrgang 1930), Biophysiker, Menschenrechtsaktivist in der Sowjetunion, scharfer Kritiker des Tschetschenien-Krieges und von Putin. Oder Miklos Haraszti, dessen Buch „Stücklohn“ eine Kritik des Arbeitslebens im realen Sozialismus war und der für seine Wahrheit mehrere Jahre ins Gefängnis musste. Georgy Konrad, der ungarische Schriftsteller, war da.

„Wolfgang Eichwede hat mich angerufen.“ So schildert zum Beispiel Haraszti den Beginn seines Kontaktes nach Bremen. Bei Anna Sabatova (Jahrgang 1951), der Charta-77-Mitbegründerin, war es genauso. Um den Horchposten des Regimes zu entgehen, musste sie damals wichtige Gespräche mit Eichwede auf einem lärmigen Kinderspielplatz führen. Auf verschiedenen Wegen brachten Oppositionelle aus allen osteuropäischen Ländern einzelne Exemplare ihre illegalen Schriften in den Westen – zu Eichwede, dem Sammler des „Samizdat“-Schrifttums.

Während die offizielle sozialdemokratische Entspannungspolitik auf gute Kontakte zu den sozialistischen Regierungen setzte, war Bremen die Stadt, die sich für die unbequemen und oft illegalen Störenfriede des realen Sozialismus interessierte. Hans Koschnick (SPD), der frühere Bremer Bürgermeister, hat den Weg für das Institut geebnet.

Das Institut war lange Zeit die einzige Institution im Westen, von der sich die Dissidenten und Oppositionellen uneingeschränkt ernst genommen fühlten und der sie vertrauten. In Bremen liegen mehr Materialien aus der Anfangszeit von Solidarnosc als in Polen, sagte Geremek zum Beispiel. Das Bremer Institut war aber auch ein Ort ohne Nationalitäts-Schranken, die sonst die Dissidenten der Tschechoslowakei, die Opposition in Polen,Ungarn und in Sowjetrussland voneinander trennten.

Auch das wurde sinnbildlich, als viele der alten Männer aus den verschiedenen Nationen sich zur Begrüßung im Bremer Rathaus umarmten. Die Bremer Forschungsstelle, die Eichwede mit seiner vertrauenserweckenden, zurückhaltenden Art seit 25 Jahren aufgebaut hat, ist ein Stück „Gedächtnis der demokratischen Bewegungen in Osteuropa“, bedankte sich Geremek bei der Feierstunde im Bremer Rathaus. „Das Bremer Institut hat auch durch seine Studien über die Protestkultur eine große Bedeutung für die Osteuropa-Geschichtsschreibung bekommen“, sagte der Historiker Jan Kren. Eichwede hatte Kren, der nach dem Ende des Prager Frühlings bei den Wasserwerken arbeitete, eine Gastprofessur in Bremen angeboten, Koschnick seine Ausreise ausgehandelt. KLAUS WOLSCHNER