Alles Schlechte hat er nicht vergessen

HOLOCAUST Erinnern an Auschwitz: Der Dokumentarfilm „Der Dachdecker von Birkenau“ porträtiert einen KZ-Überlebenden

Mordechai Ciechanower krempelt seinen linken Hemdärmel hoch, 81434 ist in ausgefranster Tinte auf seinem faltigen Unterarm zu lesen. Die Nummer seines Vaters sei die 81433 gewesen, sagt er vor einer Schulklasse, die seinen Schilderungen mit Schrecken in den Augen folgt.

Der 89-jährige Zeitzeuge wurde in Maków Mazowiecki geboren, einer kleinen Stadt 80 Kilometer nördlich von Warschau. Für den Dokumentarfilm „Der Dachdecker von Birkenau“ fährt Filmemacher Johannes Kuhn mit ihm die Stationen seiner Verschleppung ab. In Maków Mazowiecki zeigt Ciechanower, wo das Ghetto war und spricht über Kindheitserinnerungen. Er muss etwa 15 gewesen sein, als er mit seinen Eltern und seinen zwei Schwestern deportiert wurde.

Er war später in einem Arbeitslager in Rózan, in einem Durchgangslager in Mlawa, in den Außenlagern in Buna/Monowitz und Dautmergen, in den Konzentrationslagern Stutthof, Hailfingen-Tailfingen, Bergen-Belsen und zweimal war er in Auschwitz-Birkenau, das er den größten Friedhof der Welt nennt. Der Film zeigt ihn im Gespräch mit Menschen am Ort, vor Gedenkstätten, zeigt ihn allein vor der Kamera mit eindringlichen Schilderungen davon, was ihm und seiner Familie widerfahren ist. Sein Jiddisch und Polnisch wird deutsch untertitelt. Bemerkenswert ist die Deutlichkeit seiner Erinnerungen in diesem hohen Alter. Hass scheint er keinen zu hegen, man spürt eher unendliche Trauer und eine große Enttäuschung über die Menschheit.

Der Dokumentarfilm kommt in den knapp zwei Stunden ohne einen Erzähler aus, eine Landkarte kündigt die Wege zu den nächsten Stationen an. Man sieht Mordechai Ciechanower auf der Reise – im Auto und in der Bahn, beim Abendessen mit Menschen, deren Verbindung zu ihm nicht auf Anhieb klar wird. Die Sequenzen sind lang, das Tempo langsam und die Einstellungen von der tristen Landschaft in Polen und Deutschland vermitteln ein beklemmendes Gefühl.

Indem er berichtet, was in den Konzentrationslagern geschah, löst Mordechai Ciechanower sein Versprechen ein. „Denkt an uns, das war ihr letzter Wille“, sagt er. Er hat sich vorgenommen, seine Erinnerungen an die Gräueltaten weiterzugeben, solange er lebt. „Fall, leb, tanz“, hatten sie ihm und den anderen Häftlingen in Rozan zugerufen, sie mussten die Wachen unterhalten. Ciechanower erzählt von den unzähligen Misshandlungen und den vielen Toten. Von den großen Betonrohren, die er in der Kälte rollen musste, und wie er sein Leben für seinen Vater riskierte, bevor er ihn aus den Augen verlor. Er erzählt von dem zermürbenden Hunger, unter dem er all die Jahre litt, von der Trennung von seiner Mutter und seinen Schwestern in Auschwitz, die er danach nie wiedersah.

Er erzählt von den Goldzähnen, die er den Toten ziehen musste, um für seinen Freund Laibl Chait Medizin zu bekommen, der dann in seinen Armen starb. Von den ersten Bomben, die fielen, und den Blindgängern, die er freilegen musste. Es waren seine Fähigkeiten als Dachdecker und seine Musikalität, die ihm halfen, am Leben zu bleiben.

Als er befreit wurde, war Mordechai Ciechanower 21 Jahre alt und wog 35 Kilo. Dem 89-Jährigen kommen im Film die Tränen, als er erzählt, wie er nach diesen Torturen zufällig erfuhr, dass sein Vater noch am Leben war. „Das Gute gedenkt sich, das Schlechte vergesst sich – aber auch das Schlechte habe ich nicht vergessen“, sagt er. Der Film leistet seinen Beitrag, damit das auch die Generationen nach ihm nicht tun. SASKIA HÖDL

■ „Der Dachdecker von Birkenau“. Regie: Johannes Kuhn. Deutschland 2014, 105 Min. Eiszeit-Kino, 15. 11., 18 Uhr (OmU), in Anwesenheit des Regisseurs