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Archiv-Artikel

Auf der Leiter zum Kilo-Glück

Eine Forschungsgruppe am Adlershofer Institut für Kristallzüchtung will das Eichmaß Kilo neu definieren – mit Hilfe von Silizium. Denn der Pariser Urkilo-Würfel aus Platin wird immer leichter

VON JOHANNES GERNERT

Als Helge Riemann am 23. Mai des Jahres 2007 um 12:03 Uhr und 14 Sekunden von der weißgrauen Trittleiter steigt, ist er sichtlich erleichtert – und die Welt einer neuen Definition des Kilogramms einen Schritt näher. Durchs Bullauge der Züchtungsanlage hat er gerade den fertigen, fast vollkommen reinen Silizium-Einkristall leuchten sehen, abendrotfarben und raketenförmig. Noch ist es in der Anlage heiß wie in einem Hochofen, aber morgen früh schon werden sie den Kristall herausholen und ihn genauer betrachten können. Es scheint alles gutgegangen zu sein. Es musste auch alles gutgehen. Sie hatten nur diesen einen Versuch.

Aus dem grausilbrigen Gebilde, das der Kollege Till Turschner im Institut für Kristallzüchtung in Berlin-Adlershof zwanzig Stunden später in eine Plastiktüte schweißt, polieren derzeit Spezialisten in Australien zwei Siliziumkugeln heraus. Die Kugeln sollen helfen, einen Würfel aus Platin und Iridium überflüssig zu machen, der in einem Tresor des Internationalen Büros für Maß und Gewicht in Paris lagert: das Urkilo. Seit 1879 definiert dieses Eichmaß, wie schwer ein Kilogramm ist. Jede 1.000-Gramm-Packung Mehl, egal ob in Marzahn oder in Manhattan, wiegt im Idealfall genau so viel wie das Urkilo. Der Würfel allerdings verliert Gewicht. Keiner weiß genau, warum. Vielleicht hat man ihn zu heftig poliert, vielleicht entweichen Wasserstoffatome aus dem Metall. Fest steht: Es hat in den vergangenen hundert Jahren bis zu 70 Mikrogramm abgenommen. Das ist zwar weniger, als ein Salzkorn wiegt, Naturwissenschaftler aber messen längst geringere Unterschiede.

Atome klaut keiner

Die Ungenauigkeit stört den Physiker Helge Riemann, Kompetenzfeld Volumenkristalle, Leiter der Abteilung Silizium-Germanium. Das Urkilo überhaupt, findet er, gehört ins Museum – zum Urmeter. Ein Meter ist längst nicht mehr bestimmt durch einen Metallstab in einem Tresor. Ein Meter ist definiert durch die Strecke, die Licht in einer bestimmten Zeit zurücklegt. Das ist eine Naturkonstante, die existiert unabhängig von Stäben und Würfeln und Tresoren. Die kann man nicht klauen. Was wäre denn etwa, wenn jemand das Urkilo stehlen würde? Dann hätte er damit die ganze Kilodefinition geklaut. Natürlich: Es gibt Urkilokopien. Aber die sicherste Variante scheint Riemann, dem Naturwissenschaftler, das Kilo an eine physikalische Größe zu binden – an ein Atom. Atome klaut keiner.

Helge Riemann, klein, wach, witzig, blaue Socken, braune Sandalen, gehört mit seinem Team am Berliner Institut für Kristallzüchtung zu einer internationalen Gruppe von Wissenschaftlern, die das Kilogramm mithilfe des Silizium-Atoms neu definieren wollen. „Die Eigenschaften von Silizium sind gut erforscht“, sagt er. „Wir leben schließlich im Siliziumzeitalter.“ Aus dem Kristall, den sie bei 1.400 Grad aus dem Rohmaterial zusammengeschmolzen haben, werden zwei Kugeln geschält, die bis auf die achte Nachkommastelle mit dem aktuellen Gewicht des Urkilos übereinstimmen. Dann werden Wissenschaftler von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig die Anzahl der Atome in der Kilokugel messen, sodass sie schließlich sagen können: Ein Kilogramm, das sind soundso viele Silizium-Atome. Es wird wahrscheinlich eine Zahl mit 25 Stellen dabei herauskommen.

Damit sich die Messspezialisten nicht verzählen, müssten eigentlich alle Atome dieselbe Masse haben. Silizium besteht aus drei unterschiedlichen Atomarten, den Isotopen 28, 29 und 30, deren Massen sich unterscheiden. Über 90 Prozent aber macht das Isotop 28 aus. In russischen Laboren hatten Wissenschaftler sich während des Kalten Kriegs recht intensiv damit beschäftigt, bestimmte Materialien sehr hoch mit einem einzigen Isotop anzureichern. Sie arbeiteten mit Uran, aber ihre Expertise erwies sich in Friedenszeiten auch bei der Kiloneudefinition mittels Silizium als äußerst hilfreich. Es gelang ihnen, einen achtzig Zentimeter langen, sechs Kilogramm schweren Block hochreinen Siliziums herzustellen, der zu fast 100 Prozent aus dem Isotop 28 besteht. Wert: 1,2 Millionen Euro. Transport: im Handgepäck. Vorsichtshalber hatten sie diesmal den Zoll informiert, aber in der Regel interessiert sich nicht einmal das Sicherheitspersonal für torpedoförmige Kristalle. Riemann selbst hat im Flugzeug öfter welche in seiner Aktentasche. „Mit so einem Ding, auch wenn es so aussieht wie eine Granate, kann man ohne weiteres fliegen.“

Im Institut in Berlin-Adlershof schlossen sie das Material im grauen Schrank hinter einer der vier Züchtungsanlagen ein. Ein einfacher Aktenschrank, aber wer sollte schon hochreines Silizium stehlen wollen, dachte Riemann. Vor allem: wozu?

Auf die Züchtung des Siliziumkristalls hatte sich sein Forscherteam monatelang vorbereitet, einige über Jahre und manche über Jahrzehnte. Am Institut arbeiten sie schließlich seit der Wende mit Kristallen. Riemanns Silizium-Germanium-Abteilung ging es dabei nicht immer so gut wie heute, wo der anhaltende Solarboom auch die Forschungseinrichtungen stützt. Zwischenzeitlich wären die Anlagen fast verschrottet worden, erzählt der Physiker. Dann haben amerikanische Kollegen mit einem Auftrag ausgeholfen.

Die Anlagen stehen noch und sind besser ausgelastet denn je. In der Halle sieht es aus wie in einer Fabrik. Die ofenförmigen Maschinen rauschen. Auf Tischen mit grünen Gummitischdecken glänzen die Kristalle. Am Abend vor der Züchtung haben sie das eingeschweißte Rohmaterial in die Anlage gehoben. Eigentlich müsste die Umgebung steril sein wie das Operationsbesteck eines Herzchirurgen. „Schmutz ist das allergefährlichste“, sagt Riemann. Die Putzfrau kommt allerdings nur zweimal in der Woche. Also wurde das Silizium vor dem Transport durch die Halle jedes Mal in Plastik eingeschweißt.

Tausendmal geglüht

Am Morgen des 23. Mai um zehn Uhr stellte sich Brigitte Hallmann-Seiffert ans Bullauge der Anlage, neben ihr der Computerbildschirm, mit dem sie die Temperatur und die Drehgeschwindigkeit der Induktionsspule im Innern steuerte. Die Ingenieurin hat in ihrem Leben über 1.000 Kristalle gezüchtet, hat den kleinen Impfstab, dessen Atome schon über die richtige Gitterstruktur verfügen, an die geschmolzene Rohmasse angenähert und diese mit der Struktur infiziert, hat dabei die Temperatur in der Anlage abgestimmt und irgendwann die Automatik eingeschaltet. Wie Lavamasse glühte das flüssige Silizium jedes Mal im unsichtbaren Aragongas. Es drehte sich in der Luft, durch die Spule hindurch, und der neue Kristall wuchs daraus hervor. Sie würde nun dasselbe tun wie tausendmal zuvor, aber die Form musste beim allerersten Mal stimmen. Die Gitterstruktur durfte nirgendwo brechen. Beim kleinsten Anzeichen eines Fehlers musste sie genau richtig reagieren.

„Es ist wie ein Musikinstrument spielen“, sagt Riemann. „Wenn man das nicht ständig übt, ist man nicht mehr perfekt.“ Er stand mit einer Handvoll Kollegen um Hallmann-Seiffert herum. Gelegentlich stieg er auf die Trittleiter und beobachtete das wabernde Orange durch das zweite Bullauge. Es war zwei Stunden lang fast vollkommen still in der Halle, nur die Anlage rauschte.

Am nächsten Tag, als sie gesehen hatten, dass der Kristall rein war, machten sie eine Flasche Sekt auf.

Es kann nun noch bis zu drei Jahre dauern, bis alle Atome gezählt sind und die neue Definition vorliegt. Dann müssen die Pariser Präzisionswächter entscheiden, ob sie sie akzeptieren. Unterdessen entwickelt eine andere internationale Forschergruppe, die das Urkilo ebenfalls abschaffen will, mit Hilfe einer haushohen Waage ein schwer durschaubares „elektrisches Kilogramm“. Riemann hält die Methode für etwas indirekt. Er hofft, dass der Silizium-Ansatz am Ende gewinnt. „Das wäre dann schon ein tolles Gefühl, dass man zum Kilogramm der Zukunft etwas beigetragen hat“, sagt er.