: Schwarz-grüner Schulterschluss
Jean-Baptiste Joly, Jahrgang 1951, ist Vorstand der Stiftung Akademie Schloss Solitude in Stuttgart seit deren Gründung im Jahr 1989. Der Literatur- und Kunstexperte lebt seit 1983 in Stuttgart. Er ist Mitglied im Stiftungsrat des Kunstmuseums Stuttgart, gehört dem Deutsch-Französischen Kulturrat an und ist zudem Professor an der Weißensee Kunsthochschule Berlin
von Jean-Baptiste Joly
Tagebuch vom Dienstag, 15. Juli 2031: Heute Morgen im AGV (Automotrice à Grande Vitesse) von Berlin nach Stuttgart in 95 Minuten gefahren. Es ist für mich so etwas wie eine Fahrt zurück in die eigene Vergangenheit! Der HUB am Flughafen, der seit zehn Jahren als Notlösung die Funktion eines zentralen Bahnhofs für die Stuttgarter Region übernommen hat, ist eigentlich sehr praktisch: Mit dem unterirdischen Shuttle ist man in zwölf Minuten in der Innenstadt. Trotzdem bevorzuge ich die alte Stadtbahnstrecke, denn der herrliche Blick von der Weinsteige auf die Stadt erfreut einen immer wieder aufs Neue.
Stuttgart ist wie eh und je konservativ und seit bald zwanzig Jahren fest in grüner Hand. Bis auf einige Nostalgiker, die jeden Montag bei einem Viertele ihre Heldentaten als Parkschützer im Ratskeller zelebrieren, spricht niemand mehr von Wutbürgern und Juchtenkäfern. Von heute aus betrachtet wirken die Ereignisse von damals eher harmlos, aber wenn ich an den Sommer 2011 zurückdenke, kommt mir die allgemein herrschende Ratlosigkeit wieder in den Sinn und die heftigen Reaktionen der Öffentlichkeit auf die sehr optimistischen Ergebnisse des Stresstests (was für ein Wort!), die von der Bahn vorgelegt wurden.
Die Wende kam – unerwartet – von der CDU, die sich einige Wochen später doch für einen Volksentscheid über Stuttgart 21 einsetzte und mit den Grünen im Landtag den Mindestanteil der Stimmenbeteiligung auf 25 Prozent herabsetzte. Dies war sicherlich ein kluger Schachzug, denn die Mehrheit der Bevölkerung war eh für das Projekt, das mit diesem Bürgerentscheid in der Öffentlichkeit endlich legitimiert wurde und die Gegner vorläufig beruhigte. Übrigens war dieser erste schwarz-grüne Schulterschluss der Beginn einer beinahe konkurrenzlosen Dominanz beider Parteien über das politische Geschehen in Deutschland.
Aber der Stuttgarter Sommer 2011 war nichts gegen den Aufstand von 2015: Nach mehreren unglücklichen Sprengungen musste im Frühjahr die Firma, die als einzige gewagt hatte, den Tunneldurchstich durch die Keuperschicht durchzuführen, Konkurs anmelden. Im Sommer wurde dem Verein „Kenner trinken Stuttgarter Mineralwasser“ bekannt, dass die Quellen durch Fehlbohrungen längst verseucht worden waren. Der Skandal hätte die Bahn, die bundesweit boykottiert wurde, beinahe in den Ruin getrieben, wenn sie nicht im selben Jahr mit der französischen SNCF fusioniert hätte. Im Zuge des Skandals führte die D-F Bahn AG als erstes europäisches Unternehmen eine Transparenz-Charta für die Realisierung von Großprojekten ein, die inzwischen EU-weit als Standard gilt.
Am Stuttgarter Hauptbahnhof angekommen – der keiner mehr ist –, bewundere ich, wie der Paul-Bonatz-Bau in Deutschlands schönsten Konzertsaal verwandelt wurde, und schaue amüsiert auf eine Demonstrantengruppe, die gegen den Abriss des unnötig gewordenen Durchgangsbahnhofs von Ingenhoven protestiert. Es sei eine Schande, sagen sie, ein Musterbeispiel deutscher Architektur der Jahrhundertwende so leichtfertig zu zerstören!