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Archiv-Artikel

Schräge Touren durch Tallinn

KULTURHAUPTSTADT I In Tallinn ist noch der Umbruch vom Sowjetstaat zur postkommunistischen Ära zu spüren

Tallinn-Tipps

Kulturhauptstadt: Mit einem Budget von rund 50 Millionen Euro startet die estnische Hauptstadt Tallinn (knapp 500.000 Einwohner) ins Europäische Kulturhauptstadtjahr 2011. Auf dem Programm stehen mehr als 200 Events: www.tallinn2011.ee

Fortbewegung: Die Tallinncard gilt als Fahrkarte für alle städtischen öffentlichen Verkehrsmittel. Mit der Tallincard hat man außerdem freien oder ermäßigten Eintritt in rund 100 Museen und anderen Einrichtungen. Praktisch ist auch ein Fahrrad, das man zum Beispiel bei Citybike www.citybike.ee tage- oder stundenweise mieten kann. Hier gibt es auch geführte Radtouren.

Stadtführungen: Neben den offiziellen Stadtführungen zu Fuß gibt es geführte Radtouren u. a. bei der städtischen Tourist-Info, Touren auf dem Wasser sowie Audioguides zum Mieten (www.audioguide.ee, auf iPod: www.euroaudioguide.com). Alternative Stadtrundgänge und Radtouren bietet ein Studentenprojekt am Zelt (Südrand der Altstadt Richtung Freiheitsplatz) an. www.traveller.ee

Informationen: Touristinfo der Stadt Tallinn: www.tourism.tallinn.ee, Estland Tourismusinfo: www.visitestonia.com

VON ROBERT B. FISHMAN

Estlands Hauptstadt hat viele Gesichter. Die vorbildlich restaurierte, komplett erhaltene Altstadt aus dem Mittelalter, ein Unesco-Weltkulturerbe, zieht jedes Jahr mehr als eine Million Touristen an. Allein die Kreuzfahrtschiffe bringen jährlich an die 400.000 Besucher ins historische Reval. Doch jenseits der Stadtmauer finden sich viele Spuren der untergegangenen Sowjetunion und manche Zeichen des Aufbruchs.

Die Sowjetunion beginnt hinter der Stadtmauer. An einem wuchtigen dunklen Schreibtisch sitzt unter einem Lenin-Porträt ein schlaksiger Mann in Fleecepulli und Jeans. Tanel Soosar blickt auf sein Werk. Eine alte Lagerhalle voller Realsozialismus. Zusammen mit zwei Freunden hat er die Sowjetunion zurück nach Tallinn geholt: eine Ladeneinrichtung, alte Militärfahrzeuge der Roten Armee und viele Skurrilitäten aus dem Alltag.

„Dieses Auto hat ein Este 1968 selbst gebaut“, erklärt Taner lachend und klopft auf die Karosserie eines knallroten Flitzers: Fiberglas. Er habe sich eine Gussform aus Ton gefertigt und diese mit dem Kunststoff gefüllt. Innen: zwei Sitze, Lenkrad, Bremse, Armaturenbrett, Tacho, alles da. „Das Auto war offiziell angemeldet. Er ist damit in den Urlaub bis ans Schwarze Meer gefahren.“

Das Museum Made in USSR zeigt den Alltag in der Sowjetunion, keinen KGB, keinen Gulag, kein Gruseln. Das ganz normale Leben hinter dem „Eisernen Vorhang“: eine komplett eingerichtete Wohnung mit wackeliger Schrankwand aus furniertem Pressspan, Küchengeräte, ein Radio, ein Schlauchboot zum Auseinanderbauen und ein Rasenmäher Marke Eigenbau.

„Der funktioniert“, verspricht Taner, ebenso wie die selbst gebaute Motorsäge eines anderen estnischen Bastlers. Die sei sogar in die Serienproduktion übernommen worden. An viele Geschichten erinnert sich Taner, Jahrgang 1973, selbst noch genau: „Wenn wir eine Schlange vor einem Laden gesehen haben, haben wir uns angestellt. Erst nach dem Einkauf haben wir uns dann überlegt, was wir mit dem Erworbenen anfangen.“

Diese Zeiten sind seit 20 Jahren vorbei. Auf dem Russischen Markt hinter dem Bahnhof gibt es alles. Aus Plastikkisten verkaufen die Händler Obst und Gemüse. An den verwitterten Fassaden alter Lagerhallen hängen bunte billige Klamotten, dazwischen Stände mit Trödel, mehr oder minder versteuerten Zigaretten aus ganz Europa. Hinten ein Kiosk: im Schaufenster ein Wecker mit Stalin-Konterfei, sowjetische Orden, Naziabzeichen und Wehrmachtstreichhölzer „für den deutschen Soldaten“. Hier wird verkauft, was Geld bringt.

Ein junger Mann preist an einem Tapeziertisch auf Russisch seine mechanischen Wecker an. „Die sind aus Polen, gute Ware“, verspricht er.

Solche Schnäppchen gibt es in der Innenstadt nicht mehr. Die Läden, Galerien, Cafés und Restaurants sind fast so teuer wie in Westeuropa. Der Staat spart. „Die Leistung des estnischen Wohlfahrtsstaats kommt disproportional den Wohlhabenden zugute“, kritisiert die internationale Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit OECD. Estland gibt nur etwa 12,5 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Sozialleistungen aus. Im europäischen Durchschnitt sind es 27 Prozent. Die Arbeitslosenquote ist jedoch auf mehr als 15 Prozent gestiegen.

Gute Jobs bekommen – wenn überhaupt – nur Bewerber, die Estnisch und möglichst auch Englisch sprechen. Die meisten Russen, fast die Hälfte der Tallinner Bevölkerung, haben da schlechte Karten. Sie selbst oder ihre Vorfahren sind als Arbeiter der sowjetischen Industrie oder im Dienste des Militärs nach Estland gezogen. Bis zur Unabhängigkeit 1991 firmierte das kleine Land wider Willen als Estnische Sozialistische Sowjetrepublik. 20 Jahre nach der Wende ist Estland mindestens so marktwirtschaftlich wie der Westen.

Geld wird heute vor allem mit Dienstleistungen und Hightech verdient. Stark sind Banken, Design-, Metall- und vor allem Software- und Internetunternehmen. Skype zum Beispiel, Erfinder und weltweiter Anbieter von Internettelefonie, sitzt in Tallinn. Fast das ganze Land ist online. „Wir erfahren im Internet die Zeugnisnoten unserer Kinder“, schwärmt Stadtführerin Ole Kirs, „und die meisten Sitzungen unseres Parlaments können wir online verfolgen.“ Der Staat garantiert allen Bürgern ein Recht auf Internetzugang. Fast alle Cafés bieten ihren Gästen kostenloses W-LAN.

Aus Lautsprechern heulen und pfeifen Granaten, dazwischen hört man immer wieder Detonationen

Definitiv offline ist man in Tallinn unter der Erde. Die Bauarbeiten für einen neuen Uferradweg haben begonnen. Neben dem mächtigen mittelalterlichen Wehrturm namens Kiek in die Kök (Blick in die Küche) mit seinen zwei Meter dicken Mauern führt eine steile Treppe in die Tiefe. Mit jeder Stufe wird es feuchter und kühler. Im 17. Jahrhundert begannen die Schweden damit, die starke Stadtmauer Tallinns zu untertunneln. So konnten sie hören, wenn Feinde versuchten, die Stadtmauer zu untergraben oder selbst einen Tunnel unter die Stadtbefestigung zu sprengen.

Aus Lautsprechern heulen und pfeifen Granaten, dazwischen hört man immer wieder Detonationen. Am Ende eines langen Gangs sitzt eine täuschend echt aussehende Puppe in einem Holzregal: eine abgemagerte Frau in einem alten Mantel. Auf den nackten Regalböden schliefen die Menschen, die hier Zuflucht vor den Bomben suchten.

Nach 1945 diente der unterirdische Gang weiter für den Fall eines Krieges als Luftschutzbunker. Eine Frauenfigur sitzt in sowjetischer Armeeuniform an einem Tisch und hält Wache. In einem Regal liegen Gasmasken.

Estland fiel 1939 an die Sowjetunion, nachdem Hitler und Stalin Osteuropa unter sich aufgeteilt hatten. 1941 marschierte dann doch die deutsche Wehrmacht in Tallinn ein. Die Stadt hieß nun wieder Reval, bis sie die Rote Armee 1944 zurückeroberte. Dabei verbrannten die meisten Holzhäuser in den Tallinner Vorstädten. Im mittelalterlichen Zentrum haben fast 90 Prozent der Gebäude den Krieg überstanden. Heute gehört die komplett erhaltene Altstadt zum Weltkulturerbe.

An ihrem Südrand ragt ein turmhohes gläsernes Kreuz in den klaren, blauen Tallinner Sommerhimmel. Auf seinem Sockel liegen immer frische Blumen. „Das Rote Kreuz ist wieder da“, lästern viele Tallinner über das angeblich 100 Millionen Kronen (6,43 Millionen Euro) teure Monstrum. Zwischen Glasplatten und Metallträger gedeihen rote Pilze. Bisher haben sie alle Reinigungsversuche überstanden. Geschichten wie diese erzählt der Student Denis Osmann. Er führt Touristen auf den alternativen Stadtrundgängen eines Tallinner Jugendprojekts.

Nicht weit vom grauen, kahlen Freiheitsplatz mit dem gläsernen Kreuz verkaufen junge Leute in einem Zelt Funky-Bike-Fahrradtouren und die alternativen Stadtrundgänge. Die Stadtführer des Projekts schicken ihre Gäste zum Einkaufen auf den Russischen Markt. Wer das schönste Schnäppchen mitbringt, bekommt die Souvenirs der anderen dazu. Eventshopping für wenige Cent.

Nicht minder ungewöhnliche Tallinnerfahrungen vermittelt Toomas Lelov auf seinen Citybike-Radtouren. Von seinem Laden in der Altstadt geht es über holpriges Kopfsteinpflaster in Tallinns fast vergessenes Viertel am Meer. Das ehemalige Elektrizitätswerk zwischen Altstadt und Ostsee steht leer. Auf einer Bank vor dem alten Gebäude sitzen unter der Feuerwehrtreppe zwei junge Männer bei einem Bier.

Zum Autobau 1968 hat sich ein Este eine Gussform aus Ton gefertigt und diese mit Fiberglas gefüllt

Raul, einer von beiden, nennt sich Radiokünstler. Schräge Töne, Soundinstallationen, die sich nicht jedem Hörer erschließen. „Illegal“, meint Raul. Eigentlich bräuchten die Radiomacher vom alternativen Emil Karrida Kunstimuuseum eine Lizenz für ihren Sender. Weil sie die nicht bekommen, senden sie heimlich. Drinnen im ehemaligen E-Werk ist es stockfinster. Eine Videoinstallation zeigt verschwommene, undefinierbare Bilder.

Die Stadt hat das Potenzial der freien Kunstszene inzwischen entdeckt. Das ehemalige E-Werk wird zum Kulturzentrum umgebaut. Schließlich ist man 2011 Kulturhauptstadt Europas und die hat im Brachland am Westmeer, wie die Ostsee hier heißt, einiges vor. „Geschichten von der Meeresküste“ wollen die Kulturhauptstadtmacher erzählen und so Tallinner und Gäste daran erinnern, dass die Stadt jahrhundertelang vom und mit dem Meer gelebt hat.

Zu Sowjetzeiten war das Gebiet zwischen Altstadt und Wasser gesperrt. Jetzt nutzen junge Leute die Freiräume, Ruinen und Brachflächen für Experimente: ein Kunstmuseum im stillgelegten Elektrizitätswerk, Konzerte, Partys, Ausstellungen und Workshops im leer stehenden Gefängnis Patarei. Bis 2004 diente die ehemalige Festung mit Meerblick als Knast. Seitdem steht das Gemäuer leer. Die Zellen sind offen. Auf der Rückseite des Bauwerks haben junge Leute eine Strandbar eröffnet.

Erst allmählich holen sich die Tallinner ihr Meeresufer zurück. Am alten Hafen entsteht in einem ehemaligen Wasserflugzeug-Hangar ein Kulturzentrum, ein italienischer Investor hat auf einer Brachfläche ein neues Wohnviertel gebaut, und die Preise für die alten Holzhäuser im einstigen „Glasscherbenviertel“ nebenan steigen rapide.

Die Frage, was im neuen Tallinn von den Freiräumen am Meeresufer bleiben wird, kann noch niemand beantworten.